Eines der kleinen Fotos an der Pinnwand zeigte eine junge schöne Frau in gelber pakistanischer Tracht. Das Bild war auf einem Balkon aufgenommen worden. Im Hintergrund war ein Dutzend Fenster eines grauen Blocks zu sehen.
»Meine Nichte«, sagte Hussain Khan, der wieder im Zimmer stand. »Fatima, Kims ältere Schwester. Sie ist der Trost ihrer Großeltern. Sie wohnt bei ihnen in Lahore.« Eifrig fügte er hinzu: »Es ging ihr hier nicht gut. Sie wissen ja, norwegische Jungen sind nicht gut für unsere Mädchen.«
»Wird sie da unten bleiben?«
»Ja«, erklärte Hussain Khan energisch. »Sie wird heiraten.«
»Wie alt ist sie?«
»Achtzehn.«
»Wenn dieser Zettel aus der Schule stammt, wie Sie meinen, wer kann ihn dann geschrieben haben?«
Hussain Khan zuckte mit den Schultern und schob sein Gesicht vor. »Sara, Leila, was weiß ich. Eine von ihnen.«
»Die Töchter Ihres Bruders?«
»Ja.«
»Nach dem Tod Ihres Bruders haben Sie den Laden so mehr oder weniger übernommen, stimmt das?«
»Nein«, Hussain Khan steckte abwehrend die Arme aus. »Ich arbeite nicht hier, ich komme nur her, um mit Kim zu sprechen, und meine Frau hilft gratis aus. Ich arbeite nicht hier.«
»Sie bekommen Sozialhilfe, nicht wahr, sind schon lange arbeitslos?« Roger Høibakk steckte den Block in die Tasche.
»Es gibt keine Arbeit, und im Laden werden auch nicht viele gebraucht. Es ist ein kleiner Laden. Sie lesen ja Zeitung. Ausländer finden in Oslo keine Arbeit. Norwegen ist für uns ein hartes Land, wissen Sie.«
»Ihr Neffe leitet den Laden also allein?«
»Der Sohn meines Bruders ist sehr tüchtig. Er macht seine Sache im Laden gut und versorgt seine Mutter und seine Schwestern. Er ist wirklich ein guter Junge. Ich kann vielleicht bei der U-Bahn Arbeit bekommen. Ein Freund arbeitet da, er sagt, sie brauchen noch Leute zum Putzen. Vielleicht bekomme ich da Arbeit.«
Cato Isaksen erhob sich und bedankte sich bei dem Pakistani für die Auskünfte. »Das wär’s für heute«, sagte er. »Vielleicht müssen wir noch auf Sie zurückkommen.«
Eine Rentnerin, eine alte Dame mit senfgelbem Mantel und einer abgenutzten Handtasche, die von ihrem Handgelenk baumelte, sprach sie an, als sie den Laden gerade verlassen wollten. »Was ist denn jetzt los, Hussain?« fragte sie und starrte die beiden Ermittler böse an.
»Nichts«, sagte Hussain Khan schnell und schob sie freundlich vor sich her.
Cato Isaksen dachte daran, in wie großem Umfang im kleinen Oslo doch mit Sozialleistungen geschwindelt wurde. Und dieses Problem wurde immer noch größer, egal, was die Politiker sagten.
Kim Khan schaute von den Waren auf, deren Preise er gerade in den Kassenapparat eintippte. Als die Kundin ihre Waren in eine Plastiktüte gesteckt hatte, bat Cato Isaksen den Jungen, sich am nächsten Tag um elf auf der Wache einzufinden.
»Das ist ja gleich um die Ecke«, sagte er und lächelte dem Jungen kurz zu. Der Junge erwiderte das Lächeln nicht.
»Ich weiß, wo das ist. Ich war schon mal da«, sagte Kim Khan düster. Sein Gesicht war müde und ernst. Er sah älter aus als seine siebzehn Jahre. »Haben Sie den Mörder, oder was?« fragte er und wandte sich den Einkäufen der alten Dame mit dem gelben Mantel zu. Sie hatte ihre wenigen Waren auf den Tresen gelegt.
»Eins kann ich euch sagen«, schaltete die alte Dame sich ein, »schon seit Monaten gibt es hier kein verbotenes Fleisch mehr! Ich weiß das genau, ich kaufe hier ja schließlich jeden Tag ein! Fragt Hussain. Komme ich nicht jeden Tag, Hussain?« Sie drehte sich um und rief quer durch das Lokal. Hinten half Hussain gerade einer jungen Mutter, ein Paket Windeln aus einem der oberen Regalfächer zu nehmen.
»Morgen vormittag um elf also.« Cato Isaksen lächelte den Jungen erneut an, und der nickte widerwillig und tippte eine Packung trockene Kekse und ein kleines Graubrot ein.
Auf dem Weg nach draußen nahm Cato Isaksen plötzlich den Geruch eines ganz besonderen Gewürzes wahr. Sofort assoziierte er damit ein Bild. Bente hatte einmal ein phantastisches Essen aus Zutaten gekocht, die sie von einer pakistanischen Bekannten im Wohnblock auf der anderen Seite der Schnellstraße bekommen hatte. Er erkannte den Duft dieses Gewürzes. Konnte sich daran erinnern, wie diese Mahlzeit ausgesehen hatte, an die Wärme der Paneelöfen und die ruhigen Vorhänge. Es war Winter gewesen, es war einige Jahre her, drei oder vielleicht vier. Eine ganze Ewigkeit. Er ertappte sich bei dem Gedanken ans »damals«, wie ein alter Mann, der zurückdachte. Was er sah, war das eigentliche Leben.
Er ging die kleine Treppe hinunter. Der kleine Junge auf dem Dreirad bewunderte noch immer die bunten Bonbonstreifen. Im Geruch des schmutzigen Frühlings hing der beunruhigende Dunst des Schmerzes.
John und Tina klettertenneben ihre Mutter auf den Hocker: »Ich mag das Fleisch nicht«, sagte John und zeigte auf die Koteletts, die nebeneinander in der blauen feuerfesten Form lagen.
»Ich will das nicht«, fügte er hinzu und machte einen langen Hals, um zu sehen, was auf dem Flur vor sich ging. Seine Mutter gab keine Antwort, sie legte einfach eine kleine Kartoffel auf den Teller des Jungen.
Tina wandte sich an das kleine Mädchen, das neben ihr auf seinem Hocker saß. »Willst du meine Barbie halten?« fragte sie. Cheryl Therkelsen betrachtete die Frau gegenüber. Sie hatte etwas Hilfloses und Verlorenes an sich. Als sei sie auf dem falschen Planeten gelandet. Sie war vielleicht an die sechzig und am vorigen Abend mit ihrem Schweigen hier eingetroffen. Sie trug einen schreiend pfefferminzgrünen Pullover und einen langweiligen blauen Rock. Auch ohne nennenswerte Kenntnisse von Farbanalyse konnte Cheryl sofort sehen, daß Haut, Haare und Farben sich gegenseitig fast umbrachten. Das Gesicht der Frau war ziemlich blaß, ihre Blicke irrten umher. Sie schien nervös alle Einzelheiten der großen, gemütlichen Küche in sich aufzunehmen. Die Mutter des anderen kleinen Mädchens reichte der pfefferminzgrünen Frau die Kartoffeln.
»Mal sehen, ob wir einen Nachtisch finden«, sagte Sonja Petersen, nahm die Salatschüssel von der Anrichte und stellte sie mitten auf den Tisch, dann ließ sie sich neben der neuen Frau auf einen Hocker fallen.
Sonja Petersens Auftreten war von autoritär beruhigender Wirkung. Sie wußte, wie sie zu sprechen, flüstern, trösten und lachen hatte. Sie wußte wie, warum und wann.
Hugo Wift, der dünne schlaksige Zivi im gelben Pullover saß auf der anderen Seite der Frau in Pfefferminzgrün. Er lächelte John quer über den Tisch hinweg zu. »Dein Dino war toll«, sagte er.
»Das heißt nicht Dino, das heißt Dinosaurier«, sagte der Junge.
Hugo Wift lächelte. »Vielleicht kannst du einen zeichnen, den wir einrahmen und hier an die Wand hängen können?«
»Auch, wenn ich nicht mehr hier bin?« fragte der Junge.
»Ja, für immer«, antwortete Hugo.
John wollte noch immer kein Fleisch, und Cheryl beschloß, ihm seinen Willen zu lassen. Was brachte es schon, sich deshalb zu streiten! Und auch ihr wurde schlecht beim Anblick des gebratenen Fleisches. Sie hatte noch den Geschmack des warmen Fleischklumpens im Mund, des Fleischklumpens, den sie Svend aus dem Arm gebissen hatte, den Geschmack des heißen Blutes, das ihr in kleinen Bächen in den Mund geflossen war, während er ihr die Haare an der linken Schläfe ausgerissen hatte. Auch der Schmerz war noch da. Vorsichtig strich sie sich mit den Fingerspitzen über die Wunde. Danach nahm sie sich ein Kotelett und legte es neben ihren Teller, während ein Eisengeschmack ihre trockene Mundhöhle füllte. Sie konnte den Gedanken daran, dieses Fleisch im Mund zu haben, nicht ertragen. Sie nahm einen Schluck Wasser. Wie hatte er noch geheißen, der kleine Vogel im Nachbarhaus, als sie noch klein war? Jordy. Jordy hatte er geheißen. Sie lächelte ganz leicht und fragte sich, warum ihr gerade jetzt Jordy eingefallen war. Er hatte zitronengelbe Federn gehabt, ganz hell oben, wo die Brust in den Kopf überging. Der Vogel hatte seltsam knurrend gesprochen, dieses Geräusch schien nicht aus seinem Schnabel zu kommen, sondern direkt aus seiner Kehle. »Wake up, wake up«, knurrte er sehr oft.
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