Vor ihm lag das größte Geheimnis seines Lebens: Da war die Leiche eines ihm völlig unbekannten Mannes. Das Genick war gebrochen, die Schlagader durchgebissen, wie wenn sich die reißenden Zähne eines wilden Tieres hineingegraben hätten. Der Körper war splitternackt, die Kleider lagen ringsherum auf dem Boden verstreut. Die alte Dame und deren Enkel waren verschwunden, das Fenster weit geöffnet. Sie mussten also durch das Fenster entkommen sein, denn die Tür war ja von innen verschlossen gewesen.
Aber wie sollte der Junge seine alte kranke Großmutter so aus dem zweiten Stock hinuntergebracht haben? Nein, das war doch zu albern, so etwas überhaupt anzunehmen. Herr Skopf durchsuchte das kleine Zimmer, er bemerkte, dass das Bett von der Wand abgerückt war. Und warum? Zum dritten oder vierten Male blickte er nun unter das Bett … Es blieb dabei: Die beiden hatten sich aus dem Staube gemacht, und doch sagte ihm sein gesunder Menschenverstand, dass die alte Dame unmöglich ohne Träger hinuntergekommen sein konnte; man hatte sie ja gestern herauftragen müssen …
Die weiteren Nachforschungen breiteten nur immer dichtere Schleier über das große Geheimnis. Man fand sämtliche Kleidungsstücke der beiden noch im Zimmer. Sie mussten sich also nackt oder in ihren Nachtgewändern davongemacht haben.
Das Ganze war Herrn Skopf ein großes Geheimnis und ist es zweifellos auch heute noch.
Der Hauptmann Armand Jacot von der Fremdenlegion saß auf seiner Satteldecke, die er unter einer kümmerlichen Palme ausgebreitet hatte. Mit seinen breiten Schultern und dem fast glattrasierten Kopfe hatte er sich bequem an den Stamm der Palme gelehnt, seine langen Beine über die viel zu kurze Decke hinaus weit von sich gestreckt, die Sporen im Sandboden der kleinen weltentlegenen Oase halb vergraben. Kein Wunder, dass er es sich jetzt so gemütlich wie möglich machte, denn er hatte einen langen anstrengenden Ritt durch die Sandwogen der Wüste hinter sich.
Bedächtig und mit sichtlichem Behagen rauchte er seine Zigarette; er erwartete jeden Augenblick seine Ordonnanz, die ihm jetzt die Abendmahlzeit fertig machte. Hauptmann Armand Jacot war heute mit sich selbst und der Welt sehr zufrieden. Ein wenig rechts von ihm herrschte reges Leben und Treiben. Seine Leute, lauter sonnenverbrannte kampferprobte Soldaten, fühlten sich einmal frei von den oft drückenden Fesseln der strengen Disziplin, ihre müden Muskeln entspannten sich, man lachte, scherzte und rauchte, während man sich nach zwölfstündigem Fasten auch endlich wieder einmal etwas für den hungrigen Magen zubereiten konnte. Dort hockten außerdem völlig schweigsam und in sich versunken fünf Araber in weißen Gewändern. Sie waren stark gefesselt und ständig unter scharfer Bewachung.
So oft Hauptmann Armand Jacot zu diesen seinen Gefangenen hinüberblickte, überkam ihn vor allem das wohlige Gefühl voll erfüllter Pflicht. Einen ganzen langen Monat hatte er mit seinem kleinen Trupp in furchtbarer Glut und unter großen Entbehrungen die weiten öden Wüstenflächen durchstreift, und endlich war ihnen nun die Räuber- und Mörderbande ins Garn gegangen. Unzählige Kamele, Pferde und Ziegen hatte die Marodeure auf dem Gewissen und obendrein schändliche Mordtaten, die allein schon genügt hätten, um über die ganze unangenehme Gesellschaft den Stab zu brechen.
Vor einer Woche war man ihnen auf die Spur gekommen. Wohl hatte er im Kampf mit den Banditen zwei seiner Leute verloren, aber die Strafe hatte nicht lange auf sich warten lassen und die ganze Gesellschaft nahezu aufgerieben. Nur ein halbes Dutzend mochte seinem rächenden Arm entronnen sein, die anderen – mit Ausnahme der fünf Gefangenen – hatten ihre Taten mit dem Tode büßen müssen. Dafür hatten die Legionäre mit den kleinen Stahlgeschossen im Nickelmantel schon gesorgt. Und das Allerbeste: Der Rädelsführer Achmet ben Haudin war gefangen.
Von den Gefangenen schweiften die Gedanken des Hauptmanns Jacot in die Ferne. Er überlegte, über wie viele Meilen der Ritt durch den Wüstensand noch gehen musste, bis er wieder in dem kleinen vorgeschobenen Standort anlangte. Morgen würde es soweit sein, morgen würden ihm seine Frau und das kleine Töchterchen freudestrahlend aus dem Hause entgegenkommen und ihn willkommen heißen. In seine Augen trat ein feuchter Schimmer wie stets, wenn er an die Seinen dachte; und er sah es jetzt sogar schon ganz deutlich, wie sich das schöne Antlitz der Mutter in den noch kindlichen Zügen der kleinen Jeanne widerspiegelte, und wie beide ihm strahlend zulächeln würden, wenn er sich morgen spät am Nachmittag von seinem müden Reitpferd herabschwänge. Er fühlte schon die weichen zarten Wangen, die sich an die seinen schmiegen würden, hier die Gattin und da die kleine Jeanne – – wie Sammet auf Leder.
Plötzlich wurde er aus seinen Träumen aufgescheucht. Ein Posten hatte dem Unteroffizier etwas laut zugerufen. Hauptmann Jacot blickte hinüber. Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber die Schatten der paar Bäume drängten sich gleichsam schon in den Wassertümpel der Oase hinein, während die seiner Leute samt denen der Opfer sich weit hinaus über die jetzt goldüberglänzte Sandfläche dehnten. Der Posten deutete nach dieser Richtung. Hauptmann Jacot stand auf. Er war nicht der Mann danach, dass es ihm genügt hätte, mit den Augen anderer zu sehen. Er musste alles selber gesehen haben, ja für gewöhnlich entdeckte er alles, lange bevor die anderen überhaupt merkten, dass etwas zu sehen war. Diese außerordentliche Fähigkeit hatte ihm übrigens den Spitznamen der »Falke« eingetragen. Jetzt sah er – weit, weit hinaus über die langen Schatten – etwa ein Dutzend Pünktchen, die sich über den Sandflächen hoben und senkten. Sie verschwanden und tauchten wieder auf, wurden aber immer größer. Jacot erfasste sofort, um was es sich da handelte: Reiter waren das, richtige Wüstenreiter.
Schon kam ein Sergeant zu Jacot herbeigeeilt. Die Leute blickten alle angestrengt nach dem fernen Horizont. Jacot gab ein paar knappe Befehle, der Sergeant grüßte, machte kehrt und ging rasch zu den Leuten zurück. Sogleich sattelten die zwölf Mann, die er bestimmt hatte, ihre Pferde, schwangen sich hinauf und ritten den nahenden Fremdlingen entgegen. Der Rest des Trupps machte sich fertig, um gegebenenfalls sofort in den Kampf eingreifen zu können. Denn es war ja keineswegs ausgeschlossen, dass die Reiter, die in rasendem Tempo auf das Lager zuhielten, Freunde der Gefangenen waren und die ihre Blutsverwandten durch einen plötzlichen Angriff befreien wollten. Jacot bezweifelte dies indessen, da die Fremdlinge offenbar gar nicht erst den Versuch machten, unbemerkt heranzukommen. Im Gegenteil, sie ritten in vollem Galopp und so, dass sie von jedem deutlich gesehen werden konnten, unmittelbar auf das Lager zu. Mochte sein, dass trotzdem oder gerade deshalb Verrat und Tücke hinter diesem Herannahen in anscheinend freundlicher Absicht lauerten. Wer indessen den »Falken« richtig kannte, würde sich nie der etwas fatalen Hoffnung hingegeben haben, dass Jacot sich je in solch eine Falle locken lassen könnte.
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