Beste Rückrunde der Vereinsgeschichte. Punkt. Aus. Saisonende.
Im Breisgau wartete der nächste Gegner. Am 31. Spieltag. Ende April. Andere Menschen erfreuen sich zu dieser Zeit an konventionellen Frühlingsgefühlen. Uns Fans dagegen – einer noch immer nicht offiziell anerkannten Randgruppe der Bevölkerung – geht der Arsch auf Grundeis. Dafür gibt es zwei einfache Gründe:
1. Der eigene Verein befindet sich kurz vor dem Abschluss der Bundesligasaison in einer Tabellenregion, die unmittelbaren Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des Klubs haben kann – sowohl positiv als auch negativ. Beispielsweise kann er mitten in einem grässlich nervenaufreibenden Abstiegskampf stecken. Der Klassiker: Platz 15 am 33. Spieltag – Platz 16 am 34. Spieltag. Von Not zu Tod. Oder es geht um den Einzug in den europäischen Wettbewerb. Es droht der Absturz vom fünften Tabellenplatz auf den achten. Von international zu regional. Der Nervenkitzel. Das Adrenalin. Dieser Grenzerfahrungszutatenmix hat Fans in den letzten Spieltagen traditionell komplett im Griff. Und für jeden ist etwas anderes extrem wichtig, es gibt keine einheitliche Werteskala. Klassenerhalt ist wie Meisterschaft. UEFA-Cup ist wie Champions League. Vizemeisterschaft ist wie Abstieg. Jeder definiert sich ein individuelles System. So sorgen die letzten Spieltage einer Saison in aller Regelmäßigkeit für graue Haare, Schlafentzug, Alkoholprobleme, Krankschreibungen, Verstopfungen, Neurosen, Kündigungen, Scheidungen und verstümmelte Fingernägel. Ich weiß: Liest sich wie der Beipackzettel für Potenzpillen.
2. Ende April. Das Saisonende ist nahe. Und damit steht auch die Sommerpause unmittelbar bevor. Die schlimmste Zeit für Fans. Sechs bis acht Wochen ohne Fußball. Ja, die Nationalmannschaften geben sich manchmal die Ehre. Aber das ist bekanntlich nicht jedermanns Sache. Nationalmannschaft verhält sich zu Klub wie Kirschlikör zu Wodka – ist zwar auch Alkohol drin, dröhnt aber nicht so schön. Da geht man dann zur Schule oder studiert oder arbeitet oder was auch immer, hat aber nichts vor Augen, auf das man sich am Wochenende freuen kann. Außer vielleicht Frau und Kinder, Freunde und Verwandte. Aber das, bei allem Respekt, bringt’s ja als Ersatz auch nicht wirklich. Sommerpause. Und schon montags fragt man sich, wofür man am eh schon trüben Wochenanfang eigentlich aufsteht, wenn samstags kein Spiel stattfindet. Für „wenigstens ist das Wetter schön” kann ich mir auch nichts kaufen. Bitte. Danke. Also bleibt als Zielvorgabe nur dieser eine, weit entfernte Tag im August. Das Ende der Leidenszeit. Der Beginn der Leidenszeit.
Eigentlich hätte der BVB das Spiel in Freiburg ganz locker angehen können, denn die Erwartungshaltung an diese Saison war durch die meist tollen Ergebnisse in der Rückrunde schon erfüllt worden, zumindest von meiner Warte her. Aber es gab eben immer noch diese kleine Restchance auf einen internationalen Startplatz. Fünf Punkte Rückstand auf Tabellenplatz fünf waren es vor dem Spiel beim Sportclub aus Freiburg. In vier verbleibenden Spielen durchaus machbar.
Mal wieder lief die Borussia einem frühen Rückstand hinterher. Aber gerade erst in der letzten Woche gegen den FCK hatte die Mannschaft bewiesen, dass sie damit umgehen konnte. So auch diesmal. Ein Doppelschlag – Ewerthon und Koller – kurz vor der Halbzeit ließ den BVB in der Blitztabelle in ungeahnte Höhen klettern. Als hinderlich erwies sich dann einmal mehr ein unnötiger Gegentreffer in den Schlussminuten. Aus drei sicher geglaubten Punkten wurde ein Punkt. Ärgerlich, aber wie immer nicht zu ändern.
Eine Woche später stellten sich die Kicker von der Weser im Westfalenstadion vor. Sonntags. 81.300 Zuschauer. Rosicky als goldener Torschütze. Die Rückrunde rockte – der BVB zockte. Die größtenteils knappen Siege von März bis April spiegelten die zur Hinrunde stark verbesserte Einstellung des Teams wider. Man lief und kämpfte wieder für seine Mitspieler. Die Jungs, die von der Bank kamen, waren nicht unzufrieden mit ihrer Situation, sondern hauten sich nach Einwechslungen voll rein. Die Freude am Spiel war zurück, und andere Mannschaften hatten auch dadurch wieder eine gehörige Portion Respekt in der Tasche, wenn sie gegen Borussia Dortmund antreten mussten.
Die Saison sprintete dem Ende entgegen. Der UEFA-Cup-Platz schien mit vier Punkten Rückstand kaum noch erreichbar. Aber ein großes Highlight hatte die Saison noch in petto: das Derby in der Turnhalle. Mit diesem besonderen Spiel am vorletzten Spieltag kannst du als Mannschaft in nur 90 Minuten eine ganze Saison geradebiegen. Und tatsächlich, diese Chance ließen die Spieler des Ballspielverein 09 nicht ungenutzt. Ein 2:1-Auswärtssieg. Ein 2:1-Derbysieg. Hart erarbeitet, viel Hektik gepaart mit spielerischen Glanzmomenten und am Ende die Oberhand behalten – ein Spiegelbild der Rückrunde.
Derbysieg! Wahnsinn! Geil! Und dann auch noch die Torschützen: Ricken und Kehl. Eine Dortmunder Legende und einer, der schon damals auf dem besten Weg dorthin war. Das hätte uns noch vor wenigen Monaten niemand zugetraut, am wenigsten die verdutzten Blauen. In der Wohnung eines Kumpels flogen bei Abpfiff mehrere Tüten Konfetti durchs Zimmer, Bier schwappte in Unmengen auf die Auslegware – der Staubsauger verweigerte bei den Aufräumarbeiten seinen Dienst. Wir trugen die Derbysieger-Atmosphäre quer durch Eisenhüttenstadt, grölend und ohne T-Shirts.
Der Frühling schenkte uns warmes Wetter, der BVB den Derbysieg, und die Sommerferien kamen auch in Sichtweite. Die Woche nach dem Spiel bei den Blauen konnte ich vollends genießen – auch wenn mal wieder eine Leistungskontrolle in Chemie total nach hinten losging. Auf dem Schulhof wurde der Dortmund-Fraktion freundlich zugenickt. Zum einen, weil sich die Sympathiewerte für die Blauen korrekterweise doch arg in Grenzen hielten, und zum anderen, weil die bis dahin eingefahrenen 34 Rückrundenpunkte auf allgemeine Anerkennung stießen.
Am Ende der Woche hatte ich doch glatt – mit Ausnahme der unterirdischen Chemie-Note – die eine oder andere Eins abgestaubt, sodass sich meine Mutter veranlasst sah, das Budget für meine anstehende Wochenendtour nach Dortmund ordentlich aufzustocken. Ich drückte eh noch kräftig auf die Tränendrüse, denn mittlerweile wusste jeder, wie sensibel ich immer auf den letzten Spieltag reagierte. Mit ExtraKohle im Gepäck ging es am Samstag in aller Herrgottsfrühe Richtung Westfalenstadion. Einmal quer durch die Republik mit Umsteigehalten in Berlin, Magdeburg, Hannover und Minden. Vom aufgestockten Budget gönnte ich mir ein paar überteuerte Bahnhofsbiere. Die Züge waren brechend voll, zunächst mit typischen Wochenendpendlern und Touris der Marke „Wochenendausflug ins Grüne” und später dann – ab Hannover – mit Fußballfans. Rostock-Anhänger bestimmten dabei das Bild, was mich noch mehr auf mein Pils konzentrieren ließ. Zwei meiner Kollegen dagegen, die mich begleiteten, trafen auf etliche Auswärtsbekanntschaften. Die beiden hielten es mit Hansa Rostock und gaben ihre triste Bundesliga-Abschiedstour, denn Hansa stand als Absteiger fest. Immerhin führte sie dieser bittere Gang noch einmal ins schönste Stadion Deutschlands. Die Stimmung bei meinen Weggefährten war erstaunlich gut. Was sollten sie auch anderes machen. Zum Trübsalblasen blieb schließlich die ganze Sommerpause Zeit. Natürlich hatte ich in dieser Situation gut reden. Das musste ich mir einige Male auch genau so anhören. Wahrscheinlich konnte ich mich einfach nicht wirklich in die Lage meiner Freunde hineinversetzen.
Nachdem wir um die Mittagszeit in Minden den letzten Umstieg über die Bühne gebracht hatten und dicht gedrängt im Eingangsbereich des Regionalexpress standen, kam ich nicht umhin, meine Begleiter noch mal auf diese „Wir steigen ab, euch scheint die Sonne aus dem Allerwertesten”-Thematik anzusprechen.
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