So wie ich es in der Kapitelüberschrift schon habe anklingen lassen, ist dieser Auftritt als eine Art Neuanfang zu betrachten. Als ein Neuanfang innerhalb altbekannter Strukturen und mit altbekannten Strukturen. Denn wenn man genauer über die Umstände nachdenkt, hat sich zunächst einmal nicht wirklich etwas verändert. Zumindest nicht in den Bereichen, die bei einem Fußballspiel vor allem wahrgenommen werden. Trainer, Spieler und Fans? Alles beim Alten. Die Gegner in der Liga? Wie gehabt. Die Tabelle? Noch dieselbe. Die schwarz-gelbe Sicht auf diesen 26. Spieltag am 19. März 2005? Hier findet sich der springende Punkt, sozusagen die Quintessenz aus der mehrstündigen Verhandlung am Düsseldorfer Flughafen wenige Tage zuvor.
Ich kann diese Partie deshalb so ausführlich schildern, weil ich im Gegensatz zu anderen „normalen” BVB-Spielen meiner Teenie-Zeit jedes noch so kleine Detail dieses Tages, ja sogar der gesamten Woche, noch immer im Kopf habe. Dieser Auswärtserfolg setzt die Reihe „Geschichten, die nur der Fußball schreibt” in beeindruckender Weise fort. Diese verrückte Woche hätte gar nicht anders enden können.
Wie der Neuanfang eine Mannschaft formte
Der erste Schritt war gemacht, um die vielzitierte zweite Chance zu nutzen. Die wichtigen Prozesse zur Wiederherstellung einer sicheren finanziellen Basis liefen größtenteils im Hintergrund ab. Jeder Fan konnte zwar in den Medien die groben Vorgänge mitverfolgen und auch nachvollziehen, aber der wirklich tiefe Einblick ins operative Tagesgeschäft fehlte. Das war auch gut so, wie ich fand. Um die vorgefundenen Missstände beseitigen zu können, brauchten die neuen Steuermänner am Ruder des BVB vor allem Ruhe und Geduld. Schnellschüsse ohne Überlegung wären nicht sinnvoll gewesen, das hatte die jüngste Vergangenheit offenkundig werden lassen.
Die richtigen Personen für dieses schwierige Unterfangen wurden bereits in den Wochen und Monaten vor dem Beinahe-Absturz in die Fußball-Niederungen an Bord geholt. Reinhard Rauball schwang zum dritten Mal das schwarz-gelbe Präsidentenzepter. Schatzmeister HansJoachim Watzke wurde zum Geschäftsführer der Borussia Dortmund GmbH und Co. KGaA. Thomas Treß, der noch vor dem betrübten Weihnachtsfest 2004 dem verzweifelten Niebaum als externer Wirtschaftsprüfer unter die Arme gegriffen hatte, sollte schon bald zum Finanzgeschäftsführer des BVB aufsteigen. Borussia-Legende Susi Zorc war ohnehin schon länger Sportdirektor und blieb auf diesem Posten. Das sollte sie nun also sein, die längerfristig agierende Feuerwehr. Sie sollte den größten Brandherd der Vereinsgeschichte löschen.
Ich hatte von Beginn an ein gutes Gefühl bei diesen Herren, obwohl ich mir ja eigentlich vorgenommen hatte, mein Urteil gründlicher reifen zu lassen. Doch diese Männer wirkten offenbar nicht nur auf mich entschlossen genug, Borussia Dortmund nachhaltig gesund zu wirtschaften. Allerorts waren die Vorschusslorbeeren dick und saftig. Es war fast so, als spürten die Fans bereits zu diesem frühen Zeitpunkt positive Veränderungen, die sich rund um die Strobelallee ausbreiteten. Natürlich war nach den wenigen Wochen nur ein verschwindend geringer Teil des großen Scherbenhaufens beseitigt, aber das machte nichts. Das Gefühl des stetigen Voranschreitens reichte schon aus, um bei allen Beteiligten eine viel angenehmere, wärmere Atmosphäre zu kreieren. Eine Art Aufbruch zu neuen Abenteuern schien vor uns zu liegen, und jeder hatte Lust auf diese Reise.
Auch die Mannschaft wirkte gelöster. Der tolle Auswärtserfolg in Hamburg sollte Signalwirkung haben. Die Gegner der kommenden Wochen stellten große Herausforderungen dar, denn viele von ihnen standen in der Tabelle vor uns.
Zum ersten Heimspiel nach Molsiris gastierte Hertha BSC im Westfalenstadion. Ich genoss jede Sekunde an diesem Bundesliga-Wochenende. Angefangen beim viel zu frühen Weckerklingeln kurz vor fünf Uhr. Bis hin zum nervigen Zeit-Totschlagen irgendwo im Nirgendwo zwischen ein und vier Uhr in der folgenden Nacht. Das Wochenendticket hatte seinen Schrecken verloren. Alles fühlte sich irgendwie intensiver an als sonst. Und ich zelebrierte das volle Programm. Stadionwurst, Rote-Erde Bier, „You’ll never walk alone” bis zur Heiserkeit. Zur Hölle mit unseren Schulden. Bei frühlingshaften Temperaturen konnten die Jungs auf dem Rasen an die Leistung beim HSV anknüpfen und gewannen letztlich verdient mit 2:1. Die damit eingefahrenen Rückrundenpunkte 18 bis 20 bedeuteten am 27. Spieltag bereits die Einstellung der Hinrundenbilanz, die mit 18 Punkten äußerst mager ausgefallen war. Die Rückrunde zeigte eine viel gefestigtere Mannschaft, die den letzten Schliff eventuell ja sogar durch den finanziellen Fast-GAU erhalten hatte. Die Spieler kämpften, indem sie sich in jeden Zweikampf warfen, und wollten sichtlich ihren Teil zur „Resozialisierung” beitragen. Diese Art von Fußball, die in den zurückliegenden Monaten abhandengekommen schien, machte Lust auf mehr und wurde dementsprechend von uns Fans honoriert.
Der BVB befand sich also nicht nur auf Ebene der neu gebildeten Führungsetage in einer Findungsphase. Auch die Mannschaft und vor allem wir Fans mussten die Ansprüche, die in der Vergangenheit zwangsläufig gewachsen waren, mit der Wirklichkeit neu justieren. Meisterschaft. Meisterschaft. Champions-League-Titel. Fast-Abstieg. Meisterschaft. CL-Quali-Frust. Fast-Pleite. In einem Freizeitpark würde diese Art von Achterbahn ein echtes Highlight darstellen. Der ständige Wechsel von Auf und Ab ersetzt wohl jeden noch so tollen Looping. Aber was weiß ich schon davon, wo sich meine AchterbahnErfahrungswerte doch in Grenzen halten, weil mir im Kinderkarussell schon übel wird. Dieser BVB-Ritt jedenfalls schien mir genauso schwindelerregend und nervenaufreibend.
Jetzt, im Mittelfeld der Tabelle angekommen – obwohl zu Saisonbeginn mit höheren Ambitionen gestartet –, zeigte sich der wahre Charakter bei Spielern und Fans. „Wir halten fest und treu zusammen”, war also nicht nur eine dahingesungene Phrase aus dem traditionsreichen Vereinslied. Diese mystische Zeile gab die Richtung vor. Und jeder, der sein Herz an den BVB verschenkt hatte oder auch per Arbeitsvertrag an ihn gebunden war, begab sich auf diesen Pfad. Für mich als jungen Fan, der erst Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal den heiligen Atem des Westfalenstadions am Körper spürte, gehörte dieses Auf und Ab einfach dazu. Glücklicherweise wurde ich gleich zu Beginn meiner Zeit als glühender Anhänger des BVB mit (fast) allen Begebenheiten des Fandaseins konfrontiert. Nur das Szenario des Abstiegs blieb mir erspart. Später hörte ich die Geschichten älterer Anhänger und erhielt dadurch zumindest einen kleinen Eindruck jener vier Spielzeiten, die der BVB in der Zweitklassigkeit verbracht hatte. Die Älteren unter uns hatten also die ganze Palette mitgenommen.
Relativ schnell reifte bei mir die Erkenntnis, dass sportlich schlechtere Abschnitte – ja sogar jede einzelne Niederlage – mich noch enger an den Verein banden. Das Sprichwort „zusammen durch dick und dünn gehen” klingt oft hohl, trifft aber hier genau den Kern der Sache. Trotz aller Widrigkeiten machten diese schwierigen Phasen tatsächlich Spaß – ganz ehrlich, der eigene Verein kann nie nicht Spaß machen. Siege, Tore und gelungene Aktionen wurden zu etwas Rarem und Besonderem. Und wer die vorangegangen Jahre nicht ganz blind durch die schwarz-gelbe Welt geschritten war, der konnte zumindest erahnen, was da in Zukunft auf den BVB zukommen würde. Kostspielige Stars, hohe Gehaltsstrukturen und die enormen Lasten des Stadionausbaus. Die wichtige Einnahmen aus der verpassten Champions-League-Qualifikation würden dagegen fehlen. Eins und eins zusammengezählt – oder besser gesagt mehr als eins von eins subtrahiert – ergibt dann halt leere Taschen. Beim Weg zurück aus dieser Situation war Geduld gefragt. Krisenbewältigung auf Dortmunder Art. Ich hatte riesig Bock drauf.
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