Eines ließ Hauptmann Urban sich nicht nehmen: wie immer an kritischen Tagen die Tochter bis vor die Schule zu begleiten, um sicherzugehen, daß sie die Schule nicht schwänzte, und um sie obendrein bis zum letzten Moment erziehen zu können. Urban war ein anständiger, fleißiger Mann mit Durchsetzungsvermögen, er hatte sich Rang und Funktion von der Pike auf und ohne Protektion erarbeitet, da er schon in jungen Jahren das Wörtchen »unmöglich« aus seinem Wortschatz gestrichen hatte. Unterwegs nannte er der Tochter zahlreiche belehrende Beispiele aus Geschichte, Literatur und eigenem Leben, bemüht, in ihr die Überzeugung zu verwurzeln, daß Schularbeit sich am leichtesten mit unerschütterlichem Selbstvertrauen, gesundem Ehrgeiz und heiterem Gemüt bewältigen läßt.
Die Urbanová greinte heute ausnahmsweise nicht, daß seine Begleitung sie zur Zielscheibe allgemeinen Gespötts mache, sondern nickte fügsam und blieb mit ihm sogar bis zum ersten Klingelzeichen vor dem Schulgebäude stehen, damit möglichst viele Mitschüler den uniformierten Vater sahen. Sie ahnte, daß dieser Freitag ein schwarzer werden würde, und wäre heilfroh gewesen, wenn sie auch in der Klasse Polizeischutz genossen hätte.
O Jugend, wie grausam, aber auch gerecht vermagst du den Verrat an der gemeinsamen Sache zu bestrafen! Wie einfach und verständlich sind deine Gesetze, wie unbestechlich und unabhängig ist dein Gericht, wie wirkungsvoll deine unblutige Strafe! Auf diese Weise wird die Bestie Verrat an der Kette gehalten, und lassen Hasenfüße oder Hundsfötter sie frei, so werden sie für ihre Hasenfüßigkeit respektive Hundsföttischkeit mit schlagfertigem Wort und treffsicherer Hand entlohnt und obendrein öffentlich als hasenfüßig respektive hundsföttisch angeprangert.
Weiß Gott, wenn Völker in ihre Klassenkämpfe die Grundsätze ihrer Schulklassen einbrächten, dann würden sich nicht so viele Diktatoren auf ihrem Rücken austoben, und Okkupanten würden um sie herumschleichen wie genäschige Kater um die verschlossene Speisekammer. Wie schade, daß diese Justiz am Schultor endet; gleich dahinter werden Tyrannen und Vaterlandsverräter als Stützpfeiler von Recht und Anstand proklamiert und mit Orden, Ämtern und Gütern belohnt.
Weit mehr als die neue Schulaufgabe verursachte der Urbanová die Vorstellung des Spießrutenlaufens eine Gänsehaut, das ihr nicht erspart bleiben würde, selbst wenn sie fünf Väter in Polizeiuniform hätte. Sie wünschte sehnlichst, zu ihrer Bank möge ein Tunnel führen.
Sie bangte durchaus zu Recht. Das empörte Kollektiv plante, der Verräterin Martern ersten Grades, zutreffend »höllische« genannt, angedeihen zu lassen. Unter anderem standen ihr bevor:
Verweigerung brüderlicher Hilfe an der Tafel (verantwortlich: Bašus) und in der Bank (Kollektivhaftung),
Auskippen der Schultasche, auch »Kassensturz« geheißen, vor dem Unterricht (verantwortlich: Brož) und »Prager Fenstersturz« danach (verantwortlich: Ehrenberger),
unbemerktes Schwärzen einer oder mehrerer Backen mit Ruß (zu besorgen, einschließlich des Rußes, von der Slámová),
Zukleben des Russischlehrbuchs für die 8. Klasse mit Sardellenpaste (Tikal),
Einsperren in der Mädchentoilette (Tikal),
vorübergehende Entwendung der Füllfeder, deren Entleerung und anschließende Füllung mit Ketchup (Dušek),
gewaltsame Abnahme eines Schuhs und Verbergen desselben hinter der Box der Schulsprechanlage (Dušek und Ehrenberger),
heimliches Ersetzen des Pausenbrotes in der Serviette durch eine tote Ratte (mit der Besorgung und Durchführung betraut: Šefrna),
in der Turnstunde Dresche mit dem Medizinball beim Gruppenspiel (alle),
während der Turnstunde sogenanntes gordisches Verknoten sämtlicher Wäsche- und Kleidungsstücke (Javůrková),
auf dem Heimweg geschickte Anbringung eines Zettels mit der Aufschrift »Achtung, böser Hund« auf dem Rücken (Tikal),
und schließlich, ins Schülerbuch eingeschmuggelt, das Hauptmann Urban täglich aufmerksam studierte, die Fotografie eines Korporals mit der gefälschten Widmung: »Věra, das war eine Sünde! Dein Karli« (ebenfalls Tikal).
Das reichhaltige Programm blieb auf den Kassensturz beschränkt. Kaum hatte sich der an der Tür lauernde Brož ihrer Schultasche bemächtigt und im Laufschritt deren Inhalt längs des Podiums bis zum Fenster verstreut, während Ehrenberger, von Dušek abgeschirmt, versuchte, ihr einen Schuh abzustreifen, kreischte die Verräterin Urbanová schrill:
– Laßt mich in Ruhe, und ich verrate euch was!
Jahrhundertealter Schülerinstinkt zwang alle, der Information Gehör zu schenken, mochte es sich auch nur um eine Finte handeln. Sie hielten die Urbanová jedoch sicherheitshalber fest; die Slámová, die ihr laut Programm scheinbar zu Hilfe eilen sollte, wickelte den echten, hausgemachten Ruß aus.
– Rück heraus damit!
rief Tikal.
– Statt Turnen schreiben wir eine neue Mathe-Arbeit!
Die Klasse erstarrte zu Stein.
– Was quasselst du da ...
fuhr Tikal sie an, aber in seinem Inneren tickte der Instinkt wie ein Wecker und sagte ihm, daß es stimmte.
Brož warf der Urbanová ihre leere Tasche zu, Ehrenberger den Schuh. Sie stoben in ihre Bänke, um den Zustand ihrer Spickzettel zu überprüfen; dann dämmerte ihnen, daß sie statt derer heute Turnhosen und -leibchen mitgebracht hatten. Bis auf Bašus wurden alle von Panik erfaßt.
– Jesusmaria,
jammerte die Batková, womit sie die Stimmung der überwältigenden Mehrheit ausdrückte,
– na, das gibt ein Waterkloo!
In dem Moment betrat die Zimová die Klasse. Tikal bemerkte sie als erster.
– Klárka!
schrie er auf, wobei er unbewußt, ähnlich wie gestern abend vor dem Einschlafen im Geiste, zum erstenmal laut eine Koseform ihres Namens verwendete,
– der Pythagoras läßt die Arbeit wiederholen!
– Ich weiß,
antwortete sie, begrüßte freundlich die Urbanová, hockte sich neben sie und half ihr beim Aufklauben der verstreuten Schulausrüstung.
– Hör mal,
Tikal beugte sich, einer Eingebung folgend, zu ihr herab,
– du hast nicht zufällig das Buch da?
– Doch, hab ich.
– Und könntest du nicht mal kurz reinschauen? Vielleicht fällt dir wieder ein, was er uns aufgibt ...
Die Urbanová schnauzte er an:
– Glaub nur nicht, daß die Sache für dich erledigt ist!
Voll Abscheu kickte er das Bleistiftetui weg, nach dem sie eben die Hand ausstreckte, und schaltete wieder auf Klára um.
– Wie haben wir’s? Probierst du’s? Keine Angst, wenn’s schiefgeht, nehm ich’s auf meine Kappe!
fügte er gentlemanlike hinzu.
Klára zuckte die schmalen Schultern.
– Warum nicht? Der Genosse Direktor hat’s mir erlaubt.
– Was??
Das war ihnen eindeutig zu hoch, aber der Zeitdruck gestattete nicht, sich jetzt damit aufzuhalten.
– Also, mach schon!
Sie setzte sich aufs Podium, griff in die Schultasche und kramte das Rechenbuch hervor. Ringsum schloß sich hermetisch der Kreis ihrer angespannt schnaufenden Mitschüler. Sie schlug die Seiten mit den Beispielen auf.
– Fünfzehn,
verkündete sie.
– Jemand muß mitschreiben!
befahl Tikal.
– Warte!
rief die Slámová. Sie grapschte nach einem Bleistift und einem zusammengefalteten Papier, aus dem in einem dünnen Rinnsal der Ruß herausrieselte.
– So, jetzt!
– Fünfzehn ...
– Hab ich!
– Zweiunddreißig ...
– Weiter!
– Los, Klára!
– Einundfünfzig ...
– Hör mal, weißt du das genau?
– Sei still, du störst!!
– Wie kann sie das wissen??
– Stopft ihm das Maul!!
– Au, loslassen ...
– Rasch, Klára!
– Fünfundsechzig ...
– Leute, dabei wird mir ganz ...
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