Wir unterschreiben vielmehr den Ausspruch der Gawrilowa, die sich den glücklichsten aller ihr bekannten Menschen nannte, weil es ihr zuweilen geglückt sei, zur rechten Zeit das zu formen, was sie bedrängt, und das zu gestalten, was sie erfreut habe.
Dieser Ausspruch war übrigens nichts für die Kreise der Snobs, und er hielt sich auch bedeutend kürzer als die frechen Bonmots der Gawrilowa über Männer. Erwähnenswert ist er hauptsächlich des Nachsatzes wegen, der immer unterschlagen wird und dessen unverschwommene Melancholie mit dem Hochmut des Vordersatzes aussöhnt. Tatjana hatte nämlich geschlossen: „Wie freilich die anderen Menschen das Leben ertragen, war mir immer unklar, da es doch selbst für mich zuweilen unerträglich ist. Ach, ich bewundere manchmal grenzenlos das Leben eines Durchschnittsmenschen.“
Vielleicht liegt in diesem ein wenig überspitzten Satz der Schlüssel nicht zwar zu dem Geheimnis dieser Frau, das wir in so engem Rahmen nicht ergründen zu können meinen, wohl aber zu den Geschehnissen unserer Erzählung, zu der Notwendigkeit der Begegnung zweier Menschen, deren Wege doch scheinbar von Natur und Gottes wegen auf ewig getrennt bleiben müssten, wenn nicht ...
Ja, wenn nicht ebenso, wie eine Kraft im Schwachen mächtig ist, eine Schwäche im Kraftvollen wohnte, wenn wir uns nicht alle in einem höllischen Durcheinander befänden, in dem man verzweifelt nach der nächsten Hand greift, dass sie einen herausziehe, in dem man leicht ein erschrecktes Gesicht für ein unglückliches nimmt, ein verzweifeltes für eine Grimasse, in dem man hinter dem entsetzten Menschen schon den wahren hervorleuchten sieht, hinter dem wahren schon den vollkommenen, und in dem man gezwungenermassen immer ein Teil für ein Ganzes ansieht.
Wer unter uns lebt nicht mit der fixen Idee, man könne nicht genug Teile und Teilchen sammeln, weil sich das Ganze dann schon von selbst ergibt? Aber war nicht wenigstens das Leben der Tatjana Gawrilowa, dieses gefeierten, reichen, schönen, begabten und klugen Menschen, dieser Frau, auf die alle Gaben in beängstigender Fülle ausgeschüttet schienen, war dieses Leben nicht wenigstens ein Ganzes? Es ist natürlich merkwürdig, dass wir bei allem Glauben an die Möglichkeiten unserer Zeit auch hier ein „Nein“ setzen müssen; aber wir werden sehen, dass auch Tatjana nicht den Gesetzen ihrer und unserer Zeit zu entgehen vermochte, und vielleicht gelingt es uns, schon ein wenig von der Erkenntnis zu erlangen, nach der die Gesetze dieser Zeit erfüllt sein müssen, nach der Übergang zu Gegenwart sich wandeln muss, ehe aus vielen Teilen ein Ganzes werden kann.
Selbstverständlich war Tatjana ihren Zeitgenossen schon dadurch ein Stückchen voraus, dass sie den grössten Teil des europäischen Krieges ausserhalb der Kriegszonen, in Amerika, China, Indien, auf den Philippinen und auf Samoa, zugebracht hatte. Es fehlte dadurch ihrem Wesen ganz jenes Schleichende und Bedrückte, jenes Fresserische und Neidische, das im Durchschnittseuropäer als die Folge seiner unverstandenen und unverdauten Leiden zurückgeblieben ist und aus dem sich die neue Krankheit schon ankündigt ...
Und dafür, dass sie nicht allzu unbeschwert und gewichtlos, allzu ätherisch, ein Mensch ohne Schatten in dieser Welt, einherging, dafür sorgten ihre bunten und in der Mehrzahl trüben Schicksale: Aufstieg und Selbstmord ihres Vaters, des schon fast sagenhaften Kaufmanns und Hasardeurs Alexej Gawrilow, der zum Glück für seine Angehörigen in dem Augenblick zum Revolver griff, als gerade mal wieder sein Vermögen eine phantastische Höhe erreicht hatte, der bald darauf folgende Tod ihrer schwermütigen Mutter, die, eine kleine französische Provinzadlige, den Temperaturschwankungen ihres Schicksals und den Temperamentsschwankungen ihres Gatten nicht gewachsen war. Der Tod ihres ersten Mannes, des berühmten Tänzers Nowrotin, der, kaum mit der Sechzehnjährigen verheiratet, mit hunderttausend Kameraden bei den Masurischen Seen 1914 fiel. Auftauchen und Verschwinden des bekannten französischen Spions Dumesnil, der in ihrem Leben eine sehr bedeutsame Rolle spielte und ihrem Ruf jenes unheimliche Timbre verlieh, ohne das Männer sich nie ganz an eine Frau verlieren, und schliesslich ihre Ehe mit dem weltberühmten Sänger, die nicht lange dauerte, aber für die Ausbildung ihrer Stimme sehr wichtig war. Das alles, das sie nicht gesucht, von dem sie vielmehr gefunden und oft fast verschleppt war, hatte vielleicht nicht einmal so entscheidend ihr Leben beeinflusst, als es ihr Haltung und Zähigkeit und vor allem jenen Humor verlieh, den sie meist sogar ihren eigenen Angelegenheiten gegenüber aufbrachte.
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Für Irma v. Kranebitter waren die Tage nach Egberts Rückkunft sehr festlich. Wie lustig, dass Egbert plötzlich Spass daran hatte, ihre alte, dunkle Kammer frisch zu streichen. Abends, wenn Egbert nach Hause gekommen war, schlossen sie sich beide in dem Zimmerchen ein. Kranebitter bekleidete sich mit einem alten Nachthemd und ein paar kurzen Unterhosen, die Füsse steckten in Malerschlapfen, und um den Kopf hatte er, wie verwundet, einige Taschentücher geschlungen. Irma hatte nichts rechtes Zerrissenes anzuziehen und sass meist auf einem Kistchen, das Kinn in beide Hände gestützt, und schaute zu, wie der Pinsel erst wuchtig und triefend, dann haarsträubend und sanft und schliesslich nach langem Fluchen glatt und flächefärbend über die Wand sauste.
Die Sache war recht mühsam und dauerte drei Abende. Peinlich für Irma war übrigens, dass sie in dieser Zeit mit ihrem Mann im Berliner Zimmer schlafen musste, das alle anderen nun mit bedeutsamem Schleichen und Dielenknacken durchquerten. Aber schliesslich war die Kammer leuchtend blau gestrichen, und zwischen dem Blau der Wand und dem Weiss der Decke lief ein bronzegoldener Trennungsstrich. Vor dem Einschlafen hatte man nun eine Farbe vor Augen!
Auch Egbert fand das sehr schön und war nur nicht zufrieden, dass diese Arbeit schon zu Ende war. Er zimmerte darum aus alten Kistenbrettern ein Nachtschränkchen für sich und eine Polsterbank für Irma, die diese ihr Wohnzimmer nannte und auf der sie in ihrer Lieblingsstellung, die Knie an die Brust gezogen, halbe Nachmittage verbrachte. Schliesslich legte er noch mit vielem Radau elektrisches Licht in die Wohnung und machte sogar neben seinem Bett eine Lampe in die Wand, so dass er genug Licht zum Lesen hatte, ohne Irma allzusehr zu blenden.
Dann aber hatte er weder Geld noch Material, weiter zu arbeiten, und so lag er wieder von zehn Uhr ab im Bett, sah zuweilen zu Irma hinüber, die zu schlafen schien (aber durchaus nicht immer schlief), rauchte seine Zigarette langsam und sachlich und blätterte in seinen Büchern oder starrte nur wieder vor sich hin.
Er wurde wieder von Unruhe und Unzufriedenheit geplagt, er versank allmählich wieder in jene Verbitterung, aus der ihn also weder Ehe noch Reise hatten reissen können. Das reine Rentnerdasein. Man verbessert sich. O ja, man verbessert sich. Man hat eine Polsterbank und eine blaue Wand. Das Summen und Singen des Gases war verstummt.
Man liebte sich auch nach jeder Trennung ein bisschen mehr. Man lebte nach einer Reise in einem kleinen, feinen Rausch, in einem ganz versteckten Singsang des Blutes, in einem für alle anderen unsichtbaren Zündfeuer der Blicke. Aber dann verdampfte das. Dann wurden die Hände wieder nüchtern. Dann musste man wieder warten, bis irgendein Ereignis, ein Stoss von aussen kam und das gleiche von vorn begann.
Man weiss, dass derlei Krisen um die Fünfundzwanzig am stärksten und vielleicht am gefährlichsten sind. Man hat da einiges erlebt, man ist von vielem enttäuscht, man ist gezwungen, neue Versuche anzustellen. Die Kräfte strömen nicht von selbst. Sie wollen heraufgeholt werden. Man hat vergessen, woher man kam, und weiss nicht, wohin man gehört.
Wie hätte Egbert v. Kranebitter auf den Gedanken kommen können, dass es für ihn nur gelte, seine Lebensform aus sich zu bilden? Dass die Lebensform seiner Vorfahren zertrümmert war, sah er immer noch als ein unverdientes Unglück und als eine Gemeinheit dritter an. Das Gesetz darin hatte er ebensowenig entdeckt, wie er vom Wendegesetz der Fünfundzwanzig etwas wusste.
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