Wie komisch (lachte sie), ein Schnurrbart an einem nackten Mann! Er hatte wie ein Vollblutpferd ausgesehen, das man ans Schiessen gewöhnt. Selbst die Ohren, die übrigens, wie ihr aufgefallen war, eng und unten angewachsen, den Kopf umsäumten, hatten sich gesträubt. Schliesslich, da sie am nächsten Tage abreiste, war die ganze Sache eher lustig als peinlich, und nachdem sie nun doch eine zarte Hemdhose und ihr braunes Kostüm unter einigem Ächzen und Stöhnen und in steter Gefahr zu kentern angezogen hatte, nahm sie eiligst ihre Fahrt wieder auf. Prantikoff würde schon wieder eine halbe Stunde lang mit vorwurfsvoll gereckter Armbanduhr am Ufer stehen.
Egbert sah noch eine Weile dem roten Boot nach. Am besten gefiel ihm eigentlich die tänzerische Leichtigkeit, mit der dieses braune Wesen ihre Ruder rechts über links, rechts über links eintauchte. Man sah dem glatten Rücken keine Anstrengung an. Kaum, dass sich die Schulterblätter unter der Haut abzeichneten. „Das ist wirklich graziös,“ murmelte er und wandte sich wieder dem See zu, der immer blendender und heisser wurde. Der Sonne gegenüber waren die Ufer ganz dunkelblau. v. Kranebitter streckte sich behaglich im Boot. Er lächelte. Was so alles, dachte er, sich in der Welt herumtreibt. Dann schlief er ein und endete so eine erste Begegnung, die, wie sich bald herausstellte, zu den einschneidendsten Eindrücken seines Lebens gehörte.
Es gibt für diese Art, Empfindungen zu empfangen und zu verarbeiten, schlechterdings keine Erklärung, wenn man dem folgen will, was die grosse Masse einer Übereinkunft zufolge glaubt oder gar zu glauben verpflichtet ist. Hier hätte doch ein elektrischer Schlag aufzutreten, hier hätte das ersehnte Ungewöhnliche eine heftige und langandauernde Erschütterung hervorzurufen.
Es ist natürlich oberflächlich, wenn wir für die Gefühllosigkeit v. Kranebitters seine Dickfelligkeit und sein schweres Blut als Erklärung heranziehen. Tun wir das nicht, so bleibt nur, die seelischen Ereignisse für eine zarte, vibrierende Substanz zu nehmen, deren Wirkungskraft zwar sehr gross ist, deren Wirkungsschnelligkeit man aber auf Kosten ihrer anderen Eigenschaften überschätzt hat. Stimmte das, so liessen sich oft erst nach Jahren die tatsächlichen (seelischen) Folgen eines Ereignisses, einer Handlung abmessen, und wir lebten gegenwärtig oft unter einem Vergangenen, das uns schon verblasst erscheint, während der Schlag, zu dem die Gegenwart gerade ausholt, uns erst nach Jahren treffen wird.
Das klingt fürs erste etwas merkwürdig und hat manches gegen sich. Aber ich ziehe es auch nicht zu meinem Vergnügen heran oder Haarspaltens halber, sondern im ehrlichen Bemühen, das Leben einiger Menschen eine Strecke weit erklärend zu begleiten.
v. Kranebitter, der also auf jeden Fall nicht ahnte, was ihm zugestossen war, landete sehr frisch und verhältnismässig vergnügt um fünf Uhr wieder am Mythenkai. Es war schon merklich kühler, und ganz in der Ferne sah man Nebel herankommen. v. Kranebitter ging mit etwas eingeknickten Knien durch das hart rauschende Laub der Kastanien. Seine Haut brannte ein wenig unter dem Hemd. Der Hals juckte heftig. Dort hatte Sonne ihn zu scharf getroffen.
Beim feierlichen Abendessen fiel v. Kranebitter durch sein lebendiges Aussehen auf und nahm allgemein sehr für sich ein. Selbst seine etwas kindlichen, monarchistisch-feudalistischen Ansichten gewannen durch die Frische und Überzeugtheit, mit der sie vorgetragen wurden. Seine grenzenlose Wut auf den Bolschewismus wurde teilweise von den Schweizern gebilligt, andernteils schrieb man sie der Herbheit seines Schicksals zugute. Schliesslich war es doch für einen baltischen Adligen nicht einfach, eine untergeordnete Stellung zu bekleiden!
Erwähnenswert ist, dass v. Kranebitter bei diesem Abendessen zum ersten Male in seinem Leben mit seinen eigenen Ansichten nicht mehr ganz übereinstimmte. Er hielt einmal mitten in einem der schematischen Ablehnungssätze inne, besann sich einen Augenblick, errötete und stotterte ihn zu Ende. Es dämmerte ihm in dieser Sekunde, dass es keinen Sinn habe, zu wiederholen und immer wieder zu wiederholen und sich in der eigenen Bitterkeit zu wälzen.
Das wurde nachher noch sehr verstärkt. Die Frau des Direktors Werle, eine kluge und frische Sechzigerin, nahm Egbert nach dem Abendessen ein wenig beiseite. Und unter ihren nüchternen Fragen wurden verschiedene seiner bisher selbstverständlichen Voraussetzungen etwas wankend. Hatte v. Kranebitter wirklich so viel durch die Bolschewisten eingebüsst? „Ein leichteres Studium und einen Sommeraufenthalt im Jahr beim ältesten Bruder“, stellte Frau Werle mit liebenswürdigem Nicken ihres weisshaarigen Kopfes fest. „Sie sind ein selbständiger Mann“, lachte sie freundlich. „Gewandt und ganz klug. Was schauen Sie rückwärts? Ich habe Sie bei Tisch nicht unterbrochen. Ihre Anklagen mögen berechtigt sein. Über Ihre Ansichten kann man vielleicht streiten. Beide stehen aber für Ihr Leben nicht zur Diskussion, beide sind für Sie unfruchtbar. Wenn ihr Emigranten wirklich zu Unrecht aus eurem Land herausmusstet, so könnt ihr das nur beweisen, indem ihr in der Fremde etwas leistet.“
Das leuchtete Egbert eigentlich ein. Er nickte höflich vor sich hin. „Übrigens,“ schloss Frau Werle lachend das Gespräch, „soll man sich bei erlittenem Unrecht sehr in acht nehmen. Man dreht es am besten dreimal in der Hand um, ehe man es als bare Münze ausgibt.“
Auf der Rückfahrt erschien Egbert dieses Gespräch, das er sich am gleichen Abend notiert hatte, als das wichtigste Ergebnis von Zürich. Er musste viel darüber nachdenken. Selbst der Rheinfall von Schaffhausen, über dem ein Laubwald in grellen Farben stand, konnte ihn nicht aus seinen Gedanken reissen. Es schien ihm nach diesem Gespräch leichter, wieder in die Courbièrestrasse zu gehen. Er hatte sich wahrhaftig ein bisschen davor gefürchtet. Vor Irma auch? Ja, vor Irma auch, obwohl sie ihm schon oft das gesagt hatte, an das er sich nun herangrübelte.
Die Nacht der Rückfahrt war so unruhig wie die der Hinfahrt. Aber der Zug war leerer. In den Gängen beispielsweise war kein Mensch. So konnte v. Kranebitter mit den Schritten eines Seemanns tastend und tappend den Zug von einem Ende zum anderen durchmessen. Bis zu den Schlafwagen freilich nur. Aber das genügte auch. Es war ihm ein besonderes, merkwürdiges Gefühl, gegen die Fahrtrichtung anzugehen, der nach rückwärts entlaufenden Landschaft zugewandt.
Wäre er ein Dichter gewesen, so hätte er in einem Blicke die Ohnmacht des menschlichen Willens gehabt. Gegen die Fahrtrichtung: es vermindert nur um Sekundenbruchteile das Fortgerissenwerden. Mit der Fahrtrichtung: man kommt nicht eher an.
Da er aber kein Dichter war, begann er zu ahnen, dass nur und allein der menschliche Wille über das Leben entscheidet. Freilich muss man wissen, wann man ihn einzusetzen hat. Mitten in der Fahrt anhalten wollen: dann muss man schon die ganze Maschinerie beherrschen.
Zunächst jedenfalls hatte v. Kranebitter im Einschlafen den Entschluss gefasst, sein Leben mit festem Willen anzupacken und sich ein wenig mehr um die Zukunft als um die Vergangenheit zu bekümmern.
Er begann damit, sich aus den Kreisen der Emigranten zu entfernen. Wie sehr er sich dadurch auch von anderen Menschen unterscheiden musste (und dass die Emigranten mit ihrem Sonderschicksal sich von den anderen Leuten dieser vom Krieg geschüttelten Länder nicht sonderlich unterschieden), musste er ein wenig später hart und gefährlich erfahren.
Am Morgen um sechs Uhr lief der Zug in Stuttgart ein. v. Kranebitter verliess mit vielen anderen seinen Wagen, um eine Tasse jener braunen Brühe zu erwerben, mit der die Bahnhofswirtschaften den heiligen Namen des Kaffees schänden. Egbert stand gähnend und natürlich rauchend mit etwas zusammengekniffenen Augen im Haufen der Andrängenden, die er um Kopfhälfte mindestens überragte, und ärgerte sich über einen kleinen, schmalen und eleganten Herrn, der mit auffälliger Erbitterung sich an den Ausschank heranarbeitete. Er hatte schliesslich zwei Tassen erobert und schraubte sich nun durch die Menge zurück. Einer der Wartenden stiess ihn, wahrscheinlich nicht unabsichtlich, so dass sein heller Staubmantel mit Kaffee überschüttet wurde.
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