»Ein paar von ihnen ...«
Sie hatte wenig Konkretes erfahren, weil einer der vorwitzigen Kameraden eingegriffen und Sule aufgefordert hatte, von der letzten Berta zu erzählen. Der Kommentar hatte bei dem Rest der Gruppe für Heiterkeit gesorgt. Der Vorwitzige hatte Tone angesehen und mit den Händen etwas illustriert, was wohl die Körperformen der besagten Frau sein sollten. »Ja, wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre der arme Svein-Åge jetzt ein verheirateter Mann«, hatte er gesagt, und Tone hatte auf den Pausenknopf gedrückt. Das war nicht für die Aufnahme geeignet.
Tone konnte sich nicht länger auf die Sendung konzentrieren. Sie nahm die Stimmen wahr, ihre eigenen Kommentare. In Gedanken war sie bei jenem Abend. War da noch mehr passiert, woran sie sich erinnern müsste?
Da war noch ein anderer Mann gewesen, der Interesse an Sofie Lyse gezeigt hatte. Als Tone am späteren Abend die Tanzenden beobachtete, hatte plötzlich ein Mann vor ihr gestanden und sie aufgefordert. Er war dunkel und kräftig gebaut. Das bemerkte sie, als sie zu tanzen begannen. Sie hatte ablehnen wollen, aber keine brauchbare Entschuldigung gefunden. Außerdem sah er nicht übel aus, ganz im Gegenteil. Sie tanzten einen Gesellschaftstanz. Er tanzte nicht besonders gut und es war anstrengend, ihm zu folgen. Im Gegensatz zu den Männern aus Valdres war er nicht frisch rasiert. Er trug auch nicht seinen Sonntagsanzug, sondern eine schwarze Samthose und eine dunkelgraue Jacke. Ein etwas lässigerer Stil, der der Situation im Grunde genommen angemessener war. Er sagte nichts, wirkte eher abwesend und desinteressiert. Machte nur die Schritte, die nötig waren, dass ein Tanz daraus wurde. Tone fragte sich, warum er sie überhaupt aufgefordert hatte.
»Sind Sie oft auf solchen Veranstaltungen?«, hatte sie ihn gefragt, nur um etwas zu sagen.
»Nicht sehr oft«, antwortete er, ohne ihrem Blick zu begegnen. Und Sie?, hätte er fragen können. Aber das tat er nicht. Sie hätte ihm gerne erzählt, dass sie hier war, um eine Radiosendung zu machen. Vielleicht könnte sie ihn interviewen? Sie beschloss zu warten und zu sehen, ob er noch einmal mit ihr tanzen würde.
»Sollen wir noch einmal?«, fragte sie deshalb, als die Musik zu Ende war.
»Gerne«, antwortete er. Aber sein Blick suchte noch immer das Lokal ab. »Sind Sie mit ihm zusammen hier?«, fragte er plötzlich und nickte in eine Richtung. Tone folgte seinem Blick. Er musste Svein-Åge meinen, der auf dem Weg zum Ausgang war.
Tone lächelte vor sich hin. Obwohl er glaubte, dass sie nicht allein hier war, hatte er die Chance ergriffen, sie aufzufordern. Sie hatte nichts dagegen, er gehörte bestimmt zu den Besseren, die man auf so einer Veranstaltung treffen konnte. Vielleicht war das doch nicht der schlechteste Ort, nach dem Glück zu suchen?
»Ich arbeite an einer Radioreportage«, sagte sie. »Den Mann, den Sie gesehen haben, habe ich interviewt. Vielleicht können wir uns auch unterhalten?«
»Worüber?«
»Warum man zu diesen Veranstaltungen geht ..., über die Erwartungen ...« Tone fühlte sich unsicher. Die Idee schien zu schrumpfen und ganz klein zu werden. Als wäre das, womit sie sich beschäftigte, idiotisch.
»Ich denke, da bin ich nicht der Richtige«, sagte er trocken. Woraufhin ihr ihr Vorhaben noch idiotischer vorkam und sie nichts mehr sagte. Als der Tanz zu Ende war, bedankte er sich höflich. Er habe eine Bekannte gesehen, mit der er reden müsse, sagte er. Kurz darauf sah sie ihn mit der Blondine auf der Tanzfläche.
Hatten die beiden lange getanzt? Tone konnte sich nicht daran erinnern. Sie hatte damals nicht weiter darauf geachtet. Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob sie die beiden später am Abend zusammen gesehen hatte. Stattdessen tauchte eine weitere Erinnerung an Sofie Lyse auf.
Nachdem Tone mit allen Aufnahmen fertig war, war sie zum Auto gegangen, um zu überprüfen, ob alle Interviews und Hintergrundgeräusche in Ordnung waren. Es war schon nach ein Uhr nachts und sie wollte nach Hause, vorher aber noch ihren beiden Hauptpersonen Gute Nacht sagen.
Während sie auf die Eingangstür zulief, tauchte die blonde Freundin von Anne Lomen auf. Tone hatte den Eindruck, dass auch sie aus einem Auto kam. Trotz der Dunkelheit sah Tone, dass sie aufgeregt war, vielleicht sogar geweint hatte. Drinnen verschwand sie auf der Toilette. Tone ging in den Tanzsaal und wechselte ein paar Worte mit Anne. Svein-Åge konnte sie nirgends sehen. Schließlich ging sie, ohne noch einmal mit ihm gesprochen zu haben. Auf dem Weg zu ihrem Auto spähte sie in die Richtung, aus der die Frau gekommen war. In einem der Autos, an denen sie vorbeikam, sah sie die Silhouette eines Mannes hinter dem Lenkrad.
Wer war dieser Mann? Darüber machte sie sich jetzt Gedanken. Nachdem sie die blonde Frau in der Felsspalte gefunden und in das tote Gesicht gesehen hatte.
Jetzt gab es noch mehr, wovon Tone die Polizei in Kenntnis setzen musste. Jon Ruud hatte sie am Vorabend angerufen, um mit ihr zu reden. Hatte er Neuigkeiten? Sie hatte die tote Frau vorher schon einmal gesehen. Jetzt musste sie nachdenken, alle Aspekte durchgehen und herausfinden, welche Fäden in dem Durcheinander zusammenliefen. Vielleicht gar keine. Bestand zum Beispiel eine Verbindung zwischen Håkon Arfoss und der Tanzveranstaltung?
Sie spürte ein leichtes Zittern im Körper. Das mochte daher rühren, dass sie nicht richtig gefrühstückt hatte. Von einem Knäckebrot konnte man nicht stundenlang leben. Vielleicht sollte sie eine Kleinigkeit essen? Nein, erst musste sie ihre Gedanken sortieren. Sie holte Stift und Papier heraus und schrieb: Tanzveranstaltung am 29. September. Sofie Lyse hat mehrere Tänze mit Svein-Åge Sule aus Valdres getanzt. Später mit einem Dunkelhaarigen. Wahrscheinlich mit einem unbekannten Mann im Auto geredet. Am 16. Oktober tot aufgefunden. Ermordet. Håkon Arfoss in der Nähe der Fundstätte gesehen. Arfoss war nicht auf der Tanzveranstaltung gewesen. Jedenfalls hatte sie ihn dort nicht gesehen.
Tone nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Polizei. Ihre Hände waren klamm.
»Polizei«, sagte eine Stimme am anderen Ende. Sie bat, mit Jon Ruud verbunden zu werden. Bei ihm sei besetzt, lautete die Antwort. Also begnügte sie sich damit, eine Nachricht zu hinterlassen.
Anne Lomen musste mehr wissen, dachte sie und suchte nach ihrer Telefonnummer. Auf ihrer Arbeitsstelle erfuhr sie, dass Anne außerhalb zu tun hatte und kaum vor Geschäftsschluss zurück sein werde. Auf dem Handy antwortete ihr nur die Mailbox und Tone hinterließ ihr eine kurze Nachricht.
Anschließend versuchte sie es bei Svein-Åge Sule. Nach dem zweiten Klingelzeichen nahm er ab. Sie fragte ihn, ob er die Sendung gehört habe.
»Leider nicht. Ich war mit etwas anderem beschäftigt«, antwortete er ohne große Begeisterung. »Aber wird sie nicht wiederholt?«
Tone gab ihm die Wiederholungszeiten, lobte seinen Beitrag und sagte, dass das Ergebnis ihrer Meinung nach gut geworden war. »Aber ich bin neugierig, wie der Abend geendet hat«, tastete sie sich vor. »Sie haben vor allem mit einer Frau getanzt ...«
»Ach das ... Mehr ist da nicht draus geworden«, sagte er zögernd. »Aber im Moment bin ich beschäftigt und habe keine Zeit ...«
»Ich wollte Sie nicht stören«, unterbrach Tone ihn entschuldigend. »Ich wollte nur hören ..., ja, wie Ihnen die Sendung gefallen hat ...«
»Ich verspreche, mir die Wiederholung anzuhören«, sagte er, bevor er auflegte.
Was hatte sie erwartet? Dass er drauflosreden würde in dem unbändigen Drang, alles bis ins kleinste Detail zu erzählen? Jetzt hatte sie noch mehr Fragen: Wusste er, dass die Frau, die ihm auf der Tanzveranstaltung so gut gefallen hatte, tot war? War er deshalb so kurz angebunden und desinteressiert gewesen? Ein Gedanke führte zum anderen. Bis sie sich selbst Einhalt gebot. Es war in Ordnung, der Fantasie freien Lauf zu lassen, aber die Situation vertrug nicht noch mehr Kriminalgeschichten. Sie war bereits nervös genug. Die Uhr zeigte zwei Minuten vor drei und sie schaltete das Radio an. Die Nachrichten brachten nichts Neues über den Todesfall.
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