»Sie haben Marta besucht. Wie geht es ihr?«
»Gut, soweit ich weiß.«
»Ja, ja«, sagte die Frau finster. »Jetzt ist er wieder draußen.«
»Sie meinen den Sohn?«
»Ich habe ihn in der letzten Zeit ein paarmal gesehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Was für eine hässliche Geschichte. Es hat mich total schockiert, dass er das getan hat. Und dann auch noch seine Frau. Sie wissen schon, da muss etwas klick gemacht haben.«
»Sie kannten ihn?«
»Atle hat als Junge schließlich hier gewohnt. Er war im gleichen Alter wie einer von meinen.«
»Mochten Sie ihn?«
»Ich hatte nichts an ihm auszusetzen. Aber man weiß eben nie, wie es in den Leuten aussieht, in ihrem tiefsten Inneren. Es war wohl die Eifersucht ...« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, um zu zeigen, dass ihr langsam kalt wurde. »Wenn wir reden wollen, gehen wir besser hinein«, sagte sie und sah Tone abwartend an.
Tone hatte keinen Grund, mit ihr zu gehen. Sie tat es trotzdem. Diese Frau konnte ihr bei der Sendung nicht helfen, aber vielleicht hatte sie etwas zu erzählen.
Sobald sie zur Tür herein waren, wusste Tone, dass es ein Fehler gewesen war. Die Frau überfiel sie mit ihrer Redseligkeit. »Sie müssen die Unordnung entschuldigen, wenn ich gewusst hätte, dass ich Besuch bekomme ... Das passiert nicht oft, ja, ja, so ist das nun einmal ...« Langsam ging sie von der Diele ins Wohnzimmer. Die Wohnung war etwa so groß wie Martas. Aus der Küche kam ein strenger Geruch nach Kochfisch. Die Frau redete weiter: »Seit ich alleine bin ..., seit gut zwölf Jahren jetzt. Und von den Kindern bekomme ich auch nicht viel zu Gesicht. Meistens bleibt es beim Telefonieren. Ich habe zwei Jungen. Der eine ist ein hohes Tier beim Militär, der andere macht irgendwas mit Computern. So ist das heute. Ja, ja, ich bin froh, dass ich so alt bin, dass ich mich mit so etwas nicht mehr beschäftigen muss. Er lebt im Ausland. Ich habe Lasse erzählt, dass Atle wieder auf freiem Fuß ist. Die beiden haben viel zusammen herumgehangen ...«
Endlich kam sie auf ein interessantes Thema zu sprechen und Tone packte die Gelegenheit beim Schopf: »Hatten die beiden auch als Erwachsene noch Kontakt zueinander?«
»Ein paarmal haben sie sich wohl noch gesehen, nachdem sie hier ausgezogen sind. Bis das mit Lotte passiert ist. Seit dem Prozess haben sie nicht mehr miteinander gesprochen.«
»Seit dem Prozess?«, fragte Tone neugierig. »Was ist denn da passiert?«
»Lasse musste gegen ihn aussagen.«
»Warum denn das?« Tone stand am Fenster, sodass sie auf die Straße hinuntersehen konnte. Jetzt drehte sie sich um und sah ihre Gastgeberin, deren Namen sie nicht kannte, an.
»Er wusste etwas«, sagte sie unsicher. »Und man hat doch die Pflicht ...«
»Und das hat böses Blut gegeben?«, fragte Tone.
»Das können Sie sich doch denken. Aber wenn es um Strafsachen geht, hat jeder die Pflicht, die Wahrheit zu sagen«, entschuldigte sie ihren Sohn.
»Hat das ihr Verhältnis zu Marta Kristiansen beeinträchtigt?«
»Aus Marta wird man nicht so leicht klug.« Sie machte eine Pause. »Ich frage mich, wie es ihr jetzt wohl geht, wo er wieder draußen ist. Was hat sie denn gesagt?«
»Darüber haben wir kaum gesprochen. Ich habe sie aus einem anderen Grund besucht.«
»Aber sie hat es erwähnt?«
»Sie hat erzählt, dass er draußen ist, ja.«
»In der letzten Zeit habe ich ihn öfter kommen und gehen gesehen. Man weiß ja nicht, ob man sich noch sicher fühlen kann. So etwas wiederholt sich doch oft.«
Misstrauische Nachbarn gehörten für Menschen, die sich in der gleichen Situation befanden wie Marta Kristiansen, auch zum Alltag, dachte Tone. Schiefe Blicke und Vorurteile. Eine Verurteilung, die auch eine Mutter treffen konnte. Tone sah auf die Uhr und sagte, dass sie noch eine Verabredung habe.
Dunkelheit legte sich bereits über die Stadt, als sie mit schnellen Schritten zum Bahnhof ging.
Ein Auto schwenkte hinter Tone auf den Bürgersteig und parkte. Ein gutes Stück entfernt, doch nah genug, um sie nervös werden zu lassen. Sie musste sich zur Ruhe ermahnen. Es war sechs Uhr nachmittags und absolut normal, dass Autos am Straßenrand parkten. Aber niemand stieg aus. Spionierte ihr jemand nach? Atle Kristiansen? Plötzlich war der Gedanke da, und sie zählte zwei und zwei zusammen. Marta, die nicht reden wollte. Tone drehte sich nicht um. Normalerweise hatte sie um diese Tageszeit keine Angst, doch hatte sich in den letzten Tagen einiges geändert.
Torshov, Donnerstag, 18.30 Uhr
Die Musik schlug ihr entgegen, als sie die Wohnungstür öffnete. Bis zum Anschlag aufgedreht. Und kein Mensch zu sehen. Tone steuerte auf die Stereoanlage zu und drehte die Lautstärke herunter. Da tauchte Emma aus dem Bad auf. »Ist es verboten, Musik zu hören?«, fragte sie wütend.
»Es ist wohl kaum nötig, sie so laut zu stellen, dass du die Vögel draußen vertreibst«, sagte Tone und versuchte, ruhig zu bleiben.
Das war Wasser auf Emmas Mühlen. »Was für Vögel? Möwen? In dem Fall wäre es ein gutes Werk.« Sie stand mit nassem Haar in der kleinen Diele. Aus dem Bad dampfte es. »Ich wusste nicht, dass du heute kommst«, sagte sie. »Wolltest du nicht über das Wochenende in Budal bleiben?«
»Ich hatte einen Interviewtermin«, sagte Tone. Als müsste sie sich verteidigen. »Ich habe dir doch auf den Anrufbeantworter gesprochen.«
»Da müssen wir uns missverstanden haben«, sagte Emma und ging ins Wohnzimmer. Nicht dass sie selbst etwas missverstanden hatte. Nein, bestenfalls wurde die Schuld gleich verteilt.
»Ich habe nicht vor, das Wochenende über hier zu bleiben«, sagte Tone, obwohl sie genau das am liebsten getan hätte. Sie war enttäuscht, dass es ihnen so schwer fiel, normal miteinander zu reden. Im Grunde genommen war Emma ein liebes Mädchen. Tone war stolz auf sie. Sie war immer gut zurechtgekommen, in der Schule und mit Freunden. Sozial und in vieler Hinsicht gut geraten. Aber offensichtlich hatte sie es im Moment nicht leicht mit sich. Zu diesem Schluss war Tone gekommen. Nur aus diesem Grund klappte es zurzeit nicht zwischen ihnen.
»Sehr gut, ich erwarte nämlich Besuch«, sagte Emma. Ein wenig milder. Sie trug einen türkisfarbenen Bademantel. Eigentlich war ihr Haar blond wie das der Mutter. Aber seit einiger Zeit färbte sie es dunkel. Dunkelbraun mit roten Strähnen. Ihr Gesicht ist zu blass für so eine Haarfarbe, dachte Tone, war aber klug genug, dazu und zu einigen anderen Dingen ihre Meinung für sich zu behalten.
»Großmutter hat übrigens heute Nachmittag angerufen«, erklärte Emma.
»Wollte sie etwas Bestimmtes?«, fragte Tone. Immer auf der Hut, wenn es um die Eltern ging.
»Ich hatte den Eindruck, dass sie lange nichts mehr von dir gehört hat.«
»So lange ist das nun auch wieder nicht her«, sagte Tone und rechnete nach. Eine Woche. Oder eher zwei. Die Zeit verging so schnell. Seit sie pensioniert waren, waren ihre Eltern erheblich kontaktbedürftiger geworden. Sie nahm das schnurlose Telefon und wählte die Nummer der Eltern in Elverum. Pensionierte Lehrer, alle beide. Der Vater war vierundsiebzig, die Mutter einundsiebzig. Die Mutter nahm ab. Wie gewöhnlich. Die Redseligere der beiden. Sie begann über alles Mögliche zu reden. Über die restliche Familie. Was sie die letzten Tage gemacht hatten. Nach einer Weile folgten die zur Genüge bekannten Themen: dass die Zeit ihnen lang wurde. Dass nur noch Schrott im Fernsehen lief. Dass nur selten jemand vorbeikam. Tone versuchte einzuwenden, dass es doch genug anderes gab, womit man sich beschäftigen konnte. Alles eine Wiederholung früherer Gespräche. Tone versprach, bald vorbeizukommen. Sie mussten Vaters Fünfundsiebzigsten planen, sagte sie. Die Mutter antwortete, dass sie gar nicht so sicher sei, ob er eine Feier wolle. Das Gespräch endete damit, dass Tone sagte, sie müsse sich fertig machen. Sie wolle mit Irene und Liv-Helle, an die die Mutter sich doch bestimmt erinnere, ausgehen.
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