»Ist es nicht meistens so, dass die Nächsten am wenigsten wissen?« Marta stellte sich neben das Bild, sah es jedoch nicht an. Stattdessen sagte sie zu Tone: »Ich hatte den Eindruck, dass es ihnen ging wie den meisten. Sie hatten gute und schlechte Tage. Genug gute, um zusammenzubleiben.«
»Deshalb hat Sie überrascht ..., was passiert ist?«
»Wie ich Ihnen geschrieben habe ... Man kann es einfach kaum glauben. Alles wird so unwirklich. Chaotisch. Wie wenn ein Unfall passiert und dir plötzlich klar wird, dass es dich erwischt hat.«
Atle Kristiansen war in seiner Jugend ein ganz normaler Junge gewesen, hatte sie in dem Brief geschrieben. Der Gedanke, dass er einmal zum Mörder werden würde, lag ebenso fern wie die Vorstellung, dass er Staatsminister werden könnte. Seine Mutter konnte ihn sich nicht als Monster vorstellen. Das war einer der Gründe, warum Tone Marta Kristiansen unbedingt in der Sendung haben wollte. Sie repräsentierte die Mütter, die glaubten, ein Heim mit ganz normal funktionierenden Menschen geschaffen zu haben. Und die deshalb völlig überrumpelt waren, als ihr Kind plötzlich des Mordes beschuldigt wurde. Auf eine ehrliche und glaubwürdige Weise hatte sie beschrieben, wie sie rückblickend nach der möglichen kleinen Andersartigkeit in seinem Wesen gesucht hatte.
Tone wollte, dass sie das jetzt wiederholte. Sie wollte, dass Marta sich warm redete und vergaß, dass sie sich nicht interviewen lassen wollte. Tone wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dieses Haus mit einer ausgezeichneten Bandaufnahme zu verlassen. »Aber wie haben Sie reagiert, als Sie die Nachricht erhielten?«, fragte sie.
»Zuerst habe ich erfahren, dass Lotte tot ist. Das war der erste Schock. Dann kam die Nachricht, wie sie gestorben ist. Ich war sicher, dass ein Fremder das getan hat. Ein Verrückter.«
Sie standen noch immer vor der Wand mit den Familienbildern. Dann ging Marta Kristiansen zum Sofatisch und begann aufzuräumen. »All das habe ich Ihnen doch schon geschrieben«, sagte sie. »Es besteht kein Grund, mich zu wiederholen.«
Sie war nicht so leicht zu täuschen, wie Tone gehofft hatte.
In dem Brief hatte sie auch erwähnt, dass der Sohn ein Opfer seines Temperaments geworden war. Das war die Antwort, die die Mutter für sich gefunden hatte. Sie wusste, dass er sowohl in seiner Jugend als auch später zum Jähzorn neigte.
»Wie lange haben Sie geglaubt, dass er unschuldig ist?«, fragte Tone.
Marta Kristiansen blickte sie scharf an. Die Frage wühlte sie offenbar auf. Dann antwortete sie: »Ich weiß es nicht. Es bringt nichts, in diesen Dingen zu graben.« Sie machte eine Pause und sah auf die Uhr. »Man muss das hinter sich lassen, egal wie schlimm es ist«, sagte sie. »Darüber nachzugrübeln macht es nur schlimmer.«
Sie wollte, dass Tone ging. Es war aus ihrer Körpersprache und ihrem ganzen Verhalten ersichtlich. Aber Tone wollte bleiben. Wenn sie sich nicht täuschte, war die Frau ein wenig nervös. »Wie lange hat er noch?«, fragte sie.
Marta Kristiansen zögerte kurz und sah sie unsicher an. »Er ist entlassen worden. Vor einem Monat.«
Tone hatte die ganze Zeit geahnt, dass Kristiansen wieder draußen war. Hatte die Situation sich deshalb geändert? Hatte er der Mutter verboten, über den Fall zu reden?
»Das wusste ich nicht«, sagte Tone. Sie runzelte die Stirn und machte ein Gesicht, als wollte sie sagen, dass sie es hätte wissen müssen. »Und was macht er jetzt?«
»Er hat in der Haft eine zusätzliche Ausbildung gemacht. Und jetzt ... Er sucht Arbeit. Sie haben ihm geholfen, eine Wohnung zu finden ...«
»Dann beginnt er ein neues Leben?«, Tone konnte den Gedanken, dass das ungerecht war, nicht unterdrücken. Die junge Frau würde nie eine solche Chance bekommen.
»Wenn man das so nennen will«, antwortete Marta und sah traurig aus. Sie hatte sich auf einen Stuhl gesetzt. Tone tat es ihr gleich.
»Aber als Mutter ...« Tone schaffte es nicht, gleich auf den Punkt zu kommen. »Wie ist das für Sie, dass er jetzt ein freier Mann ist?«
»Das Wichtigste ist, alles hinter sich zu lassen, das ist die einzige Möglichkeit, weiterzukommen.«
»Und deshalb wollen Sie bei der Sendung nicht mitmachen?«, sagte Tone. Sie klang ärgerlicher, als sie beabsichtigte. »Er möchte auch nicht, dass Sie mitmachen?«
»Darum geht es nicht. Ich glaube einfach, dass es so besser ist.«
Tone begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen, dass sie Marta nicht würde überreden können. Zu der Sendung, die die beste werden sollte, die sie je gemacht hatte. Aber das ging nicht ohne die Hilfe von Leuten wie Marta. Sie griff nach einem der Strohhalme, die sich bewährt hatten: Lob. »Am meisten hat mir an Ihrem Brief imponiert, dass er so reflektiert ist«, sagte sie. »Sie schaffen es, Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, mit denen bestimmt viele ... in ihrer Situation ... zu kämpfen haben.«
Die braunen Augen sahen Tone an, aber Marta reagierte nicht auf das Lob.
»Sie haben so viele Kraftreserven«, fügte Tone hinzu. Und das meinte sie wirklich. So wirkte Marta Kristiansen auf sie. Die zierliche Frau gehörte nicht zu den Wohlhabenden dieser Gesellschaft. Die kleine Wohnung verstärkte diesen Eindruck noch. Viel Luxus gab es hier nicht. Aber die Frau besaß Würde und hatte ihr Teil dazu beigetragen, ihrer Familie ein würdevolles Leben zu schaffen. Bevor sie dieser unverdiente Schlag traf: Eines ihrer Kinder stand hinter dem schlimmsten Verbrechen, das ein Mensch begehen konnte, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Für diese Frau musste das die Niederlage ihres Lebens und der Grund zu lebenslanger Trauer gewesen sein.
»Wie kann ein Mensch mit so einer Niederlage leben?« Die Frage entschlüpfte ihren rotierenden Gedanken.
»Sie meinen meine Niederlage als Mutter? Oder seine Niederlage? Für ihn war es schließlich am schlimmsten.«
»Ich frage mich, wie Sie das als Mutter empfunden haben«, sagte Tone und vermied es, dass Wort Niederlage noch einmal in den Mund zu nehmen. »Er ist ja von allen verurteilt worden«, fuhr sie fort. »Während Sie selbst so viel mehr über ihn wussten ..., all das Gute, das Liebe.«
»Meine einzige Hoffnung ist, dass es ihm gelingt, sich ein lebenswertes Leben aufzubauen«, antwortete Marta kurz.
»Haben Sie sich nach seiner Entlassung oft gesehen?«, fuhr Tone fort.
»Wir haben uns häufiger getroffen. Er ist ein paarmal hier gewesen und ich habe ihn in seiner neuen Wohnung besucht.«
Marta Kristiansen war zu höflich, um Tone zu bitten zu gehen. Sie hatte klar zu verstehen gegeben, dass sie bei der Radiosendung nicht mitmachen wollte. Jetzt räumte sie weiter auf, ohne noch etwas zu sagen.
Tone verstand den Hinweis, sie konnte sie nicht länger bedrängen. Sie konnte sich nur noch für die Störung entschuldigen. Bevor sie ging, griff sie trotzdem nach dem letzten Strohhalm: »Wenn es so weit ist ..., ist es in Ordnung, wenn ich Ihren Brief in der Sendung vorlese? Ganz anonym, natürlich.«
Marta Kristiansen zögerte und Tone fügte schnell hinzu: »Sie brauchen mir nicht gleich zu antworten. Ich kann Sie anrufen, wenn es so weit ist.« Ein cleverer Schachzug, dachte sie. Er bot ihr eine neue Chance. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung.
Die Tür war hinter ihr ins Schloss gefallen, und Tone war auf dem Weg die Treppe hinunter, als eine Etage tiefer eine Tür aufging. Die rundliche Frau, die ihr vor dem Haus begegnet war. Sie ging ein paar Schritte vor Tone her nach unten. In der Hand hielt sie einen Schlüssel, mit dem sie einen leeren Briefkasten öffnete.
»Es soll kälter werden«, sagte sie und drehte sich zu Tone um. »Das haben sie im Radio gesagt.« Sie zog die Jacke fester um sich, um deutlich zu machen, wovon sie sprach.
Tone verdächtigte sie, sie abgepasst zu haben. Aber sie war neugierig, was die Frau von ihr wollte, und blieb stehen. »Ja, der Winter steht vor der Tür«, sagte sie.
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