»Mir schlottern richtig die Knie«, sagte Tone. »Seit ich die Leiche gefunden habe, sind ein paar Dinge passiert, die ich mir nicht erklären kann.« Sie saß zusammen mit ihren Freundinnen Irene Eikeli und Liv-Helle Bardal in einer Kneipe in Tostrup. Nach ihrem Journalistikstudium hatten die drei Kontakt zueinander gehalten. Tone erzählte einen Teil dessen, was sie seit ihrem letzten Gespräch mit Irene erlebt hatte.
»Glaubst du, dass das Auto heute Nachmittag etwas mit dem Mord zu tun hat?«, fragte Liv-Helle skeptisch.
»Es kann auch mit dem Besuch bei Marta Kristiansen zu tun haben«, antwortete Tone. »Oder es ist einfach nur der Beweis, dass ich langsam paranoid werde.«
»Aber die offene Schuppentür und die fremde Restaurantquittung ... Vielleicht war an dem Tag, an dem der Mord in Lillehammer passiert ist, ein Fremder in Budal – oder in der Nacht«, sagte Irene. Sie dachte kurz nach. »Und gestern Abend hat jemand bei dir an die Tür geklopft?«
»Man sollte auch nicht überdramatisieren«, sagte Liv-Helle. »Aber du musst der Polizei alles sagen. Es besteht kein Grund, die Mutige zu spielen. Du kannst bestimmt eine Überfallmeldeanlage oder so etwas bekommen.« Sie klang wie eine Mutter. »Und deine Internetaktivitäten sind sicher auch nicht das Klügste«, fügte sie hinzu.
Der moralische Seitenhieb ärgerte Tone und ließ sie sich albern vorkommen. »Dabei geht es um eine Idee für eine Sendereihe«, sagte sie.
»Ich weiß, dass es damit angefangen hat, aber inzwischen ist doch wohl ein bisschen mehr daraus geworden«, wandte Liv-Helle ein. »Ich weiß nicht, was du damit bezweckst. Vielleicht bist du ja nur auf Sex aus?« Sie hatte es spaßig gemeint, ein Versuch, die Stimmung aufzulockern.
»Nicht eine der vier Verabredungen, die ich bis jetzt hatte, hat mit Sex geendet«, sagte Tone und ging auf den Spaß ein. »Aber einige Briefe sind schon ein bisschen heiß«, fügte sie hinzu.
»Heißt das, du hast mit Briefsex angefangen?«, fragte Liv-Helle trocken.
»Das wäre bestimmt nicht das Dümmste«, sagte Irene. »Jedenfalls ist das Safersex.« Sie lachte über ihren eigenen Kommentar.
»Sich durch das Schreiben und Lesen von Sexgeschichten befriedigen?«, Liv-Helle ließ den Gedanken auf sich wirken. »Na ja, kann mir schließlich egal sein«, sagte sie.
»Aber du hast Recht«, sagte Tone und sah Liv-Helle an. »Es ist nicht ungefährlich. Ich weiß schließlich nichts über die Männer, mit denen ich mich treffe. Fast nichts. Alles, was sie vor oder während der Verabredung erzählen, kann erfunden sein. Wir treffen uns als unbeschriebene Blätter und geben einander die Chance, als ganz andere Persönlichkeiten aufzutreten als die, die wir sind. Håkon Arfoss machte einen sympathischen Eindruck. Wir konnten gut miteinander reden. Aber dann habe ich herausgefunden, dass er vielleicht ein ganz anderer ist. Vielleicht sogar ein Mörder.«
»Und du bist sicher, dass jetzt nicht deine Paranoia mit dir durchgeht«, warf Liv-Helle ein.
»Genau das weiß ich nicht.«
Die dritte Flasche Wein kam auf den Tisch, Irene musste zur Toilette und Tone stellte fest, dass ihr Handy seit dem Besuch bei Marta Kristiansen ausgeschaltet war. Die Polizei in Lillehammer hatte eine Nachricht hinterlassen: »Jon Ruud, Polizei Lillehammer. Ich würde gerne mit Ihnen reden. Können Sie mich anrufen, sobald Sie diese Nachricht bekommen. Es ist Donnerstagnachmittag, zwanzig nach fünf.« Kurz und bündig. Was wollte er von ihr? Aber es war zu spät, um zurückzurufen.
Es war nach eins, als Tone vor der Wohnung in Torshov aus dem Taxi stieg. Sie hielt den Türschlüssel in der rechten Hand bereit. In dem Moment, als das Taxi wieder auf die Straße bog, spürte sie die gleiche Angst wie am Nachmittag. Ein Auto parkte ein Stück weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, aber der Motor lief. Die Meter bis zum Hauseingang wurden ihr lang. Folgte ihr jemand? Sie wollte den Schlüssel ins Schloss stecken, aber er passte nicht. Der Schlüssel passte nicht mehr zu der Tür! Das Gefühl, verfolgt zu werden, nahm ihr den Atem. Sie versuchte es noch einmal. Nichts. Sekunden verstrichen. Endlich. Der Schlüssel steckte, sie konnte ihn umdrehen und hineinschlüpfen.
Als sie drinnen hinter der geschlossenen Tür stand und durchatmete, begriff sie, dass niemand sie verfolgt hatte. Der Hinterhof war menschenleer.
In der Wohnung waren fast alle Lampen aus. Emma schlief bestimmt, dachte sie. Auf dem Sofa im Wohnzimmer war ein Bett für sie gemacht. Sie ging zum Fenster und spähte durch einen Schlitz in der Gardine hinaus, sah, wie das Auto gerade anfuhr. Hätte sie sich mit Autos besser ausgekannt, hätte sie vielleicht die Marke erkennen können. Sie musste sich schlau machen, was Automarken anging.
Als Tone unter der Bettdecke lag, starrte sie in den dunklen Raum. War sie jetzt völlig paranoid oder beobachtete sie wirklich jemand?
Marienlyst, Freitag, 19. Oktober, 10.30 Uhr
Die tote Frau vom Mesnaelva hatte einen Namen bekommen: Sofie Lyse. Er stand auf der Titelseite der Zeitung, die vor Tone auf dem Schreibtisch lag.
In einer Stunde würde die Sendung über das Singletreffen ausgestrahlt werden. Vorher musste Tone noch ihren Beitrag für die Reihe über Schlankheitskuren redigieren. Wenn sie finanziell mit einem halben Job klarkommen wollte, musste sie zumindest die freiberuflichen Aufträge erfüllen, die sie zugesagt hatte. Deshalb hatte sie am Vortag auf dem Rückweg von Oslo in dem Fitnessstudio vorbeigeschaut, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihre Figur zu formen. In Zusammenarbeit mit ein paar anderen Journalisten sollte sie verschiedene Methoden testen, die einen schlankeren Körper versprachen. Aus einem kritischen Blickwinkel heraus. Tone rechnete damit, auch nach beendeter Kur noch alle ihre Kilos drauf zu haben, aber man durfte hoffen.
Jetzt wollte sie erst einmal lesen, was die Zeitungen über den Mord schrieben. Die, die vor ihr lag, brachte drei Seiten über den Fall Sofie. Die Polizei suchte nach Bekannten der Toten, die sich am Dienstag in der Gegend um Lillehammer aufgehalten haben könnten. Der Artikel enthielt bereits bekannte Informationen, aber auch einige neue. Lyse hatte Freunden gegenüber erwähnt, dass sie am Samstagabend nach Oslo wollte, um sich dort mit einem Mann zu treffen, den sie im Internet kennen gelernt hatte. Niemand kannte den Namen des Mannes. Seitdem hatte keiner der Freunde mehr etwas von ihr gehört oder gesehen. Niemand hatte eine Erklärung dafür, warum sie später nach Lillehammer gefahren war.
Im Internet? Tone hielt im Lesen inne. Der Gedanke war plötzlich da: Sie und die tote Frau hatten zwei Dinge gemeinsam. Sie waren zur selben Zeit im Wald gewesen und sie hatten über das Internet Kontakt gesucht. Hatten sie sich auch mit demselben Mann getroffen?
Der Name Sofie Lyse sagte ihr nichts. Doch wenn sie das Bild betrachtete, hatte sie wieder das Gefühl, die Frau zu kennen. Es war etwas unscharf, offensichtlich aus einem Foto, auf dem noch andere Personen abgebildet waren, herausgeschnitten und stark vergrößert worden.
Die siebenunddreißigjährige Sofie Lyse aus Gran war geschieden und wohnte allein, las sie. Keiner der Nachbarn erinnerte sich, sie in den letzten Tagen gesehen zu haben. Sie hatte am Freitag ganz normal gearbeitet und hätte anschließend nach Hause fahren sollen. Es war bekannt, dass Lyse sich in den letzten Monaten mit mehreren Männern getroffen hatte, die sie im Internet kennen gelernt hatte. Die Polizei hatte ihren PC sichergestellt und wollte ihre E-Mails durchgehen, auf der Jagd nach Namen und anderen Informationen. Die Autopsie ergab nichts, was auf einen sexuellen Missbrauch schließen ließ.
Der Exmann von Sofie Lyse wohnte in Oslo. Er hatte der Polizei erklärt, seit ein paar Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner ehemaligen Frau gehabt zu haben. Über einen Streit zwischen den früheren Ehepartnern war nichts bekannt.
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