Nein ... wir andern huschen frierend in den Trümmern herum. Die Nebenhäuser scheinen alle ganz eingefroren. Aber es ist viel Platz zwischen den Trümmern.
„Du hast zwei Tage nicht geschrieben“, sagte Tessy heute nachmittag streng. „Du bist so faul wie damals in Wallberg.“
„Es hat keinen Zweck, Tessy, fleißig zu sein. Bis das Buch fertig ist und es wieder Papier gibt und die Druckmaschinen wieder laufen, sind meine Leser alle verhungert oder erfroren.“
„Damals in Wallberg hattest du tausend andere Entschuldigungen für deine Faulheit. Wie hält das ein erwachsener Mann nur aus ... immer nichts tun und vor sich hinstarren?“
„Ich mag nicht mehr, Tessy. Zweimal habe ich mir eine sogenannte Existenz aufgebaut. Zweimal hat man sie mir zertöppert. Was soll es?“
Tessy schnitt zwei Scheiben Brot ab und legte sie zum Rösten auf den Ofen. „Wärme als Aufschnitt“ nennt sie das. Sie schien ganz vertieft in das Rösten. Sie brach ein Stück von der Brotrinde ab und kaute es versonnen. „Was soll es, was soll es?“ sagte sie schließlich. „Entweder man stirbt dran. Das ist immer das Einfachste. Oder man stirbt nicht. Dann lebt man eben.“
„Bloß um ein bißchen später zu sterben. Nee ... was kann schon noch kommen für einen Deutschen? Du bist noch sehr jung, Tessy. Zweiundzwanzig.“
„Zweiundzwanzig war ich damals. Die Zeit schreitet schnell.“
„Also dreiundzwanzigeinhalb. Du kannst es eines Tages noch besser haben. Wir Endachtundvierziger ... da kommt nichts mehr.“
Sie reichte mir meine Scheibe Röstbrot. „Ihr habt schon ein ganz schönes Ende Leben geschluckt“, stellte sie sachlich fest. „Mit ziemlich viel Butter drauf. Was sollen wir da sagen? Bloß acht Jahre ohne Heil Hitler, und als für mich die Seidenstrümpfe anfingen, gab’s keine mehr. Was soll es? Ich weiß es auch nicht. Aber du mußt arbeiten. Meinetwegen schon.“
„Wenn ich noch soviel arbeite ... zu Seidenstrümpfen für dich langt es doch nicht“, sagte ich ausweichend. Denn ich wußte schon, worauf sie hinaus wollte, die durchtriebene Katze.
Sie hob entrüstet ihr Röstbrot und biß ein tüchtiges Ende ab. „Was gehn dich meine Seidenstrümpfe an? Noch hab ich außerdem ein Paar ganz gute und ein Paar verschiedene. Sieht man das eigentlich sehr?“ Sie schob ihren grauen Rock bis über die Knie hinauf.
„Sehr niedliche Beine hast du.“
„Ob man es sieht, daß der eine dunkler ist?“
„Der linke ist dunkler.“
„Falsch ... der rechte. Man sieht es also nicht. Und für dich lohnt es nicht, die guten zu strapazieren.“
„Nein. Ich bin eben kein Frauenheld wie ...“
Sie sprang auf und hielt mir den Mund zu. „Sprechen darfst du nicht über ihn. Schreibe, Künstler, rede nicht.“
Und indem sie mir ihre schmalen Arme um den Hals schlang, flüsterte sie mir flehend und sanft ins Ohr: „Ich kann doch nirgends anders hin.“
„Ich habe dir gesagt, daß du bleiben kannst“, sagte ich, wider Willen gerührt. „Laß die dramatischen Auftritte.“
„Wenn du nicht arbeitest, bin ich schuld. Dann muß ich gehn.“ Und, indem sie mich plötzlich losließ, wieder ganz in ihrer alten, frechen Tonart: „Siehst du, es gibt noch Frauen, die ein Gewissen haben. Lohnt zwar nicht. Ihr merkt’s gar nicht. Die Gewissenlosen ... an denen klebt ihr. Na ja, Eisen zieht Eisen an. Ist doch so?“
„Ist so. Wenigstens in der Physik“, sagte ich. „Aber wieso war ich gewissenlos? Das möchte ich gerne wissen. Ich habe niemals ...“
„Wer spricht denn von dir, armer Alter?“
Später packte sie ihre Handtasche, malte sich die Lippen sorgfältig und unter vielem Seufzen über die schlechte Qualität ihres Lippenstiftes, dessen mangelhafte Kußfestigkeit sie durch einen schmetterlingsartigen Abdruck auf meiner Stirn manifestierte, erbat sich den Hausschlüssel, weil es „in den Jagdgründen“ spät werden könne, denn das ersehnte Wild komme nicht auf Kommando ... und stapfte davon. Ich sah ihr nach, wie sie nachdenklich, und ab und zu wie ein junges Füllen über die Mauerbrocken hüpfend, durch die Trümmerstraße davonging. Dann wischte ich mir das Schmetterlingsmal von der Stirn, zögernder, als es seiner Lächerlichkeit zukam, und setzte mich an die Maschine.
Ich habe es ja gleich gewußt: die jetzige Tessy wird mir die frühere verdunkeln, und wenn ich weiter so viel über unsere gleichgültigen Schwätzereien berichte, werde ich die Geschichte von Manuela und Vittorio nie zu Ende schreiben, in der Tessy ja nur eine Nebenfigur ist.
Auf die Hauptfigur Manuela war ich natürlich an jenem ersten Abend sehr gespannt, und ich ging frühzeitig zu der verabredeten Einladung. Mein Zimmer lud auch nicht zum Bleiben. Es war ein winziges Abstellzimmer beim Bauern Dirrmoser, in dem der Kleiderschrank mit den Sonntagssachen, die Truhe mit dem Leinenzeug und eine Vitrine mit Glassachen so viel Platz einnahmen, daß gerade noch das Bett mit den plumpen, vertrauenerweckenden Pfühlen hineingestellt werden konnte. Es war zum Ersticken.
Ganz anders bei Manuela und Vittorio. Sie hatten ein sehr großes Wohnzimmer, in dem allerlei Mobiliar stehngeblieben war: eine alte Bauerntruhe, ein roher, großer Eichentisch, ein Sessel, wahrscheinlich sehr häßlich überzogen und von Manuela mit einem bunten Bauerntuch voll großblütiger Rosen verdeckt, fünf recht angenehme Holzstühle. Eine Matratze stand in einer Ecke, bedeckt mit einer wundervollen, weichen Pelzdecke, grau und weiß gefleckt, ich weiß nicht, was für einem Tier abgezogen. Das ganze Zimmer, etwa dreißig Quadratmeter groß, war mit einem schönen Smyrna ausgelegt, der seinerseits unter zehn oder zwölf herrlichen Brücken ertrank. Ich versank fast bis zum Knöchel in dem dicken Gewebe und ging lautlos, von Vittorio lärmend begrüßt, auf Manuela zu, die auf der Couch saß, ein Bein untergeschlagen und nur das andere vorweisend. Es war kostbar bestrumpft und stak in einem braunen Wildlederschuh mit breiter, geriffelter Gummisohle. Es schien mir damals, als wolle sie den unvorbereiteten Zuschauer nicht gleich mit beiden Beinen in Verwirrung setzen. Denn in der Tat, es waren, nach Marlene Dietrichs Beinen, derentwegen ich mir so um 1928 eine völlig alberne Revue in Berlin fünfmal angesehn habe, die schönsten, geradesten, lieblichsten Beine (Was gibt es noch für Superlative? Keine, die mir im Moment einfallen. Was ist die Sprache doch für ein armseliges Instrument!), die erregendsten, die vollkommensten Beine der Welt. Sie selbst? Lieber Himmel, wie sollte ich nach allem, was ich über sie gehört hatte, nicht enttäuscht sein? Ich war auch voreingenommen. Ich wünschte nicht, daß sie mir gefiele. Aber es war auch nichts Besonderes an ihr zu entdecken. Ein rundliches, eher durchschnittliches Gesicht, pfirsichglatt und pfirsichfarben, nur wenig geschminkt, bis auf die Lippen, die, von Natur ein bißchen dick, fast immer wie zum Kuß etwas vorgeschoben waren, und die sie fraisefarben, mit einem Stich ins Gelbliche, glänzend lackiert hatte. Die Backenknochen stark und ein prächtiges Gebiß verratend. Das Haar, von einem angenehmen Nußbraun, etwas grob wie Pferdehaar, war schlicht gescheitelt und zu einem Knoten im Nacken zusammengefaßt. Und um das Madonnenhafte noch zu verstärken, trug sie — an diesem Abend — einen schmalen Goldreif im Haar, in der Art, wie ihn — freilich aus Messing — in meiner Jugend die Wandervögel getragen hatten. Nein ... sie gefiel mir nicht besonders. Die Art, wie sie mich begrüßte, war geziert damenhaft und verriet, daß sie stolz war, die gesellschaftlichen Formen erlernt zu haben. Sie sprach freundlich und überaus lebhaft auf mich ein, als freue sie sich tatsächlich, mich kennen zu lernen. Dabei war ich — als einfacher Redakteur, keine Verbindung, auf die es im Augenblick ankam, als Mann nicht in Frage kommend — ihr völlig gleichgültig. Ich mochte auch ihre Stimme zuerst nicht. Sie war merkwürdig tief, durch vieles Rauchen rauh geworden und recht eintönig. Erst später mochte ich die Stimme recht gern. Eine Hafenstimme? Nein. Aber eine gleichmütige Stimme, gleichförmig wie Wasser, das in einen Holzbottich fließt, ohne Resonanz also.
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