Vielleicht drückt sich diese Verschiebung im Diskurs besonders gut aus in dem Slogan »Wir sind das Volk«, der ja eigentlich sinnbildlich für die friedliche Revolution in der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands steht. Heute jedoch wird er bei Pegida-Versammlungen zusammen mit ausländerfeindlichen Parolen skandiert, also pervertiert zu: »Wir sind das Volk« – und »die« (Ausländer) gehören nicht dazu, hier ist das »legitime Volk«, dort sind die anderen. Dahinter stehen nicht Aufklärung und demokratischer Veränderungswille, sondern völkisches Denken und völkischer Populismus.
Emotionen und der politische Flashmob
Es gilt ganz klar, solche und vergleichbare Tendenzen normativ zu bewerten und eindeutig festzustellen, dass diese Art der Rhetorik außerhalb demokratischer Prinzipien liegt. Dieser Standardreflex der Verteidiger der Demokratie ist in der Tat wichtig! Man sollte jedoch nicht meinen, dass sich die entsprechenden Probleme erübrigen werden, indem man durch einen Ordnungsruf rationale Diskurse auf dem Boden demokratischer Ideen einfordert. Die Probleme liegen deutlich tiefer. Sie sind mit etwas verbunden, wozu es aktuell nur vereinzelte Diskussionen und eher unsystematische Feststellungen gibt, sie sind verbunden mit Emotionen, genauer dem Ausdruck und Erleben von Emotionen.
Unsere soziale Welt besteht nicht nur aus rationalen Argumenten und mehr oder weniger konsistenten Geschichten. »Response-Räume« 23, also Arenen, in denen Menschen sich über Sprache in vernünftigen Diskursen verständigen, sind nur ein Teil unserer gesellschaftlichen Praxis. Unter der Bezeichnung »Affekttheorie« wird eben die Bedeutung von Emotionen in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen (also nicht nur im Privaten) untersucht. Ein Augenmerk lag und liegt hierbei auf dem Zusammenhang von Emotionen und Ideologien. So wurde von dem Mitbegründer der Affekttheorie, dem amerikanischen Psychologen Silvan S. Tomkins, zum Beispiel die Frage erörtert, wie Sozialisierungsprozesse und die damit verbundene Aneignung von Emotionen in Ideologien münden können.24 Neuere Forschungen rücken inzwischen die Bedeutung von emotionalen Erfahrungen und emotionalen Ausdrucksformen ins Zentrum des Interesses,25 was sie in eine Verbindung bringt mit den Überlegungen zum neuen Ich. Denn das neue Ich will sich ja, wie wir gesehen haben, besonders in emotionaler Hinsicht selbst erleben und zielt stets darauf ab, jemand Besonderes zu sein. Und dieses »Besonderssein« findet Ausdruck und wird fabriziert über expressive Handlungsweisen in allen möglichen Lebensbereichen.
Von wem und wie kann sich dieses singuläre Ich gesellschaftspolitisch noch angesprochen fühlen? Von wem? Sicherlich nicht von einer Partei, vielleicht sogar nicht einmal einer NGO als institutionalisierten Großgruppen. Wie? Tendenziell nicht von Angeboten, die hauptsächlich auf rationalen Diskurs setzen und damit Ausdruck des alten Establishments, der alten Ordnung sind, die kritisch gesehen wird. Außerdem bietet Vernunft für das neue Ich nicht genügend Ausdrucksformen, rational-logisch taugt eben nicht zur gewollt-emotionalen Expression.26
Von wem und wie also kann sich das singuläre Ich gesellschaftspolitisch noch angesprochen fühlen?
Wohl eher von flüchtigen, flüssigen Gruppierungen, bei denen das neue Ich eine temporäre Heimat findet. Auch von Events, auf denen es sich mit Gleichgesinnten vorübergehend, in nur schwach formalisierten Strukturen, trifft und die nicht der Schaffung einer Gruppenidentität dienen, sondern vielmehr eine perfekte Möglichkeit zur Abgrenzung von anderen bieten. Das neue Ich zieht seine Identität tendenziell aus Unterschieden denn aus Gemeinsamkeiten. Zudem tragen – und das ist wichtig – diese Events zu einem emotionalen Erleben, zum Erleben von Emotionen bei. Und Emotionen haben »eine besondere Funktion, einen außerordentlichen Stellenwert. Zunehmend losgelöst von ihren bisherigen Kanalisierungen, sind sie zu dem Medium des pluralisierten Subjekts geworden: In den Emotionen realisiert man sich als tatsächlich Einzelner.« 27 Um welche Art des emotionalen Erlebnisses es sich dabei handelt, Freude, Aufregung, Wut oder Angst, so könnte man überspitzt formulieren, ist nahezu gleichgültig. Schreihälse und Demagogen befriedigen die Bedürfnisse des neuen Ichs in dieser Hinsicht im Übrigen in vorzüglicher Weise.
Es gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, warum wir derzeit einen zunehmenden Populismus, starke Ideologien, eine Verweigerung gegenüber rationalen Diskursen und die Infragestellung von demokratischen Prinzipien haben. Ein Teil der Erklärung liegt aber eben darin, dass die traditionellen Arenen und Foren demokratischer Partizipation das neue Ich eben nicht mehr ansprechen und sich das neue Ich emotional im politischen Flashmob erlebt.28
Emotionale Erfahrungen statt konkretes Handeln, ein gutes Gefühl als Anhaltspunkt für Gerechtigkeit, gute Taten oder auch das moralisch Richtige zu tun, wird irrelevant. Diese Besorgnis äußerte Hua Hsu im New Yorker in Anlehnung an die Kultur- und Affekttheoretikerin Lauren Berlant: »We’d replaced tangible action with affective experience. ›What does it mean for … social transformation … when feeling good becomes evidence of justice’s triumph?‹ Somewhere along the way, doing good had come to seem irrelevant – or maybe just felt impossible.« 29
Das »neue Politische« für das neue Ich klingt gruselig.
Neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe dringend gesucht
Ein Leichtes ist es nun, sich über neue Bewegungen dieser Art lustig zu machen. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck beispielsweise fand die »Occupy Wall Street«-Bewegung »unsäglich albern«. Und Christian Lindner rief der »Generation Greta« zu: »Klimaschutz ist was für Profis«, und man möge doch jetzt bitte mal wieder die Schulbank drücken. Oder man kann dem »rechten Pack«, wie Sigmar Gabriel 2016, den Mittelfinger gepflegt vor die Nase halten. Positive Resonanz oder gar Lösungen für gesellschaftspolitische Spannungen sollte man sich davon nicht erhoffen.
Genauso wenig hilft es, die neuen Formen des Ausdrucks als postpolitische Wellnesskuren von emotionsbedürftigen Menschen zu belächeln. Abgesehen davon, dass es sich dabei um durchaus berechtigte Anliegen handeln kann, die eben in neuen politischen Formen artikuliert werden (wofür die Kapitalismuskritik der »Occupy«-Bewegung oder Forderungen nach Maßnahmen gegen den Klimawandel gute Beispiele sind), birgt ein »vagabundierendes Emotionspotenzial« 30, das über traditionelle Formen des Politischen nicht mehr kanalisiert werden kann, eine gewisse Explosionskraft. Dies gilt gerade für Entwicklungen im rechten Milieu. Das macht uns Angst, und es sollte uns auch Angst machen.
Was also ist zu tun? Es muss aus meiner Sicht mittel- und langfristig in der Tat darum gehen, die (emotionalen) Bedürfnislagen von Menschen politisch aufzufangen, will man populistischen Tendenzen entgegenwirken: also vom »Emotionsraum« 31, wie Charim es nennt, in den Resonanzraum (hier besonders Begegnungen mit »Nicht-Gleichgesinnten«) und weiter in den Response-Raum im Sinne einer dialogischen Verständigung des Gebens und Nehmens von (guten) Gründen.32 Dafür bedarf es jedoch neuer Mittel und neuer Formen der gesellschaftlichen Teilhabe. Isolde Charim bringt dazu das Beispiel von Bürgerversammlungen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Frankreich im Jahr 2017, bei denen es nicht darum ging, »der Rede eines Tribuns zu folgen«, sondern »darum, die Leute zu Wort kommen zu lassen«.33 Auch wenn dies in die richtige Richtung weist, überzeugt mich dieser Vorschlag nur mäßig. Ich denke, man könnte hier etwas mehr Fantasie entwickeln.
Das neue Ich tummelt sich, wie beschrieben, nicht nur im gesellschaftspolitischen Bereich, sondern versucht, seine spezifischen emotionalen Anliegen auch in einer Vielzahl anderer Lebenskontexte einzulösen. Es könnte zur Ausgestaltung neuer Formen der Teilhabe für die Politik lohnenswert sein, sich inspirieren zu lassen davon, wie andere Akteure attraktive Arenen und Foren für das neue Ich schaffen und wie die dahinterstehende Logik funktioniert, um dann eigene – dem Politischen angemessene – Formate und Events zu entwickeln.
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