Bullshit statt Lüge
Das erreichte schwindelerregende Tempo der Gesellschaft provoziert nicht nur Schwindelgefühle bei einem großen Teil der Menschen, sie produziert auch reichlich Schwindler unter ihnen. Wohlgemerkt Schwindler und keine Lügner, denn eine Lüge bezieht sich noch auf eine geteilte Vorstellung von Wahrheit. Schwindler hingegen, so der Philosoph Harry Frankfurt, »bullshiten«, erzählen blanken Unsinn – sei es aus Ahnungslosigkeit, sei es aus strategischem Kalkül oder beidem.11 Sie fantasieren nach Strich und Faden, und zwar mitunter bewusst jenseits einer geltenden Diskursordnung. Bullshit setzt sich über die Idee der Wahrheit hinweg und zersetzt damit die herrschende Ordnung. Der Anspruch auf »Wahrheit« wird der Durchsetzung von Eigeninteresse untergeordnet. Die Welt wird eben gemacht, »widdewidde wie sie mir gefällt«. Wir kennen das aus der Werbung seit eh und je. Mittlerweile hat das Bullshiten auch die Politik erreicht. Man kann fast froh sein, wenn gelogen wird: Den Lügner kann man noch argumentativ stellen, den Bullshiter nicht.
Ob innen- oder weltpolitisch betrachtet, im Ringen um Aufmerksamkeit spielen sich diejenigen Figuren an die Spitze, die das mediale Spiel virtuos beherrschen und gleichzeitig über hinreichende politische oder ökonomische Macht verfügen, sich Gehör zu verschaffen. In Schwellenzuständen nutzen selbst ernannte Leitfiguren die Gunst der von Unsicherheit geprägten Stunde, indem sie die Delegitimation der alten Ordnung vorantreiben und gleichzeitig der Idee einer neuen Ordnung Gestalt geben.
Die Verkünder der neuen Ordnung pressen so ihre eigenen Interessen in Form. Sie bieten sich als Fluchtpunkt für eine neue Zukunft an und reizen etwas aus, das man vielleicht als eine anthropologische Konstante bezeichnen kann, ein menschliches Verlangen, das in liminalen Perioden besonders stark hervortritt: die Suche des Einzelnen nach Gemeinschaft. In Momenten existenzieller Unsicherheit ist es gerade die Gruppe, die dem Einzelnen Halt und neue Resonanzräume geben kann. Und hier ist aus meiner Sicht ein zentraler und gleichzeitig gefährlicher Kristallisationspunkt: Mit viel Glück wirken die neuen Figuren durch neue Erzählungen integrierend; das heute verbreitete Pech will es aber, dass sie unter dem Leitmotiv »wir gegen die anderen« antreten, um die Gesellschaft durch Ausgrenzungen zu spalten.
Alles im Fluss
In liminalen Zeitfenstern ist alles im Fluss, und niemand kann wissen, welche Zukunft wir vor uns haben. Sicher ist nur eines: Neben der Verteidigung von Wahrheit und den Anstrengungen, einen rationalen Diskurs aufrechtzuerhalten, muss es vor allem um »Wachsamkeit« gehen.12 Wachsamkeit gegenüber Bullshit und Wachsamkeit gegenüber selbst ernannten Helden. Welche Ziele verfolgen die neuen Figuren? Es ist höchste Zeit, zu fragen, welchen Wert wir unserer alten Ordnung zusprechen und was wir bereit sind, für ihren Erhalt zu tun, um nicht irgendwann vollends in einer postdemokratischen und neofeudalen Gesellschaft zu enden.
7Dieser Text basiert auf dem gemeinsam mit Martin Kolmar verfassten Gastbeitrag »In schwindelerregender Gesellschaft. Erosion der Ordnung« in: Spiegel Online vom 14.01.2018.
8Joseph A. Tainter: The Collapse of Complex Societies. Cambridge 1988.
9Victor W. Turner: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. New Brunswick, London 1995 (1969).
10Miriam Meckel: »Virtuelle Megaphone, durch die man sich gegenseitig anbrüllt«, ein Interview von Stephanie Gebert im Deutschlandfunk, 09.11.2016, http://www.deutschlandfunk.de/soziale-netzwerke-im-us-wahlkampf-virtuelle-megaphone-durch.694.de.html?dram:article_id=370793
11Harry Frankfurt: On Bullshit. Princeton 2005.
12Eduard Kaeser: »Der Wille zum Fake – ein philosophischer Crashkurs«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22.12.2017, https://www.nzz.ch/meinung/der-wille-zum-fake-ein-philosophischer-crashkurs-ld.1333352
2. Fluide Identitäten und das neue Ich
Wenn es wie hier behauptet stimmt, dass wir in einem liminalen Zeitalter des Dazwischens, einer Periode des »betwixt and between« leben, die alte Welt nicht mehr und die neue noch nicht da ist, dann gilt es, sich auf die Suche zu machen nach möglichen Gründen dafür oder wenigstens einige Facetten dieser Schwelle und der damit verbundenen Schwindelgefühle genauer zu beleuchten.
Reich mir mal den Rettich rüber
Der Musiker und Kabarettist Rainald Grebe besingt in seinem Song »Dreißigjährige Pärchen« den Verlauf eines abendlichen Sushi-Essens: Klaus, Beate, Uschi und Dirk, zwei Paare aus Berlin-Mitte, unterhalten sich über so allerlei – die Größe von Pfeffermühlen, Reiseziele, über die Liebe. Der Refrain »Reich mir mal den Rettich rüber« leitet vom einen Gesprächsthema zum anderen.13
Grebe porträtiert in diesem Lied sehr geschickt, was Zeitdiagnostiker als »Singularisierung« oder »Pluralisierung« bezeichnen und damit nicht nur den vordergründigen Umstand meinen, dass in unserer Welt irgendwie alles bunter geworden ist, wir eine im historischen Vergleich größere Vielfalt in der Bevölkerung vorfinden oder eine Pluralität von Meinungen vorherrscht. Dies sind eher aus einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess herausragende Erscheinungsformen denn Ursachen von Singularisierung, so jedenfalls der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz wie auch die österreichische Philosophin Isolde Charim.14 Als Ursache für eine singuläre Gesellschaft machen beide Autoren eine gesellschaftliche Neukonfiguration seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aus, die sie als einschneidend betrachten. Um was geht es dabei?
Das Industriezeitalter brachte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine auf Konformität ausgerichtete Massenkultur hervor. Ob im Konsum, in der Arbeitswelt, in Partnerschaften, der Sexualität oder im Politischen, die Lebensentwürfe, die Lebensweisen und die Weltbilder der Menschen waren – jedenfalls im Vergleich zur sogenannten Spätmoderne – relativ homogen.15 Die Welt war, wenn man so will, gut sortiert. Es gab eine Normalität, und die Bewertungsmaßstäbe für diese Normalität (also gesellschaftliche Normen) waren eher eindeutig als uneindeutig. Natürlich bleibe »die Einheitlichkeit der Gesellschaft … immer bis zu einem gewissen Grad eine Fiktion – eine Fiktion, die durch massive politische Eingriffe immer wieder hergestellt werden musste«. Aber »es war eine funktionierende Fiktion«, schreibt Charim.16 Gesellschaftliche Einheit bedarf eines gewissen Maßes an Homogenität, nicht aber vollständiger Einheitlichkeit.
In den letzten rund 30 Jahren ist das, was normal ist, uneindeutig, ja ambivalent geworden. Dies hat nicht nur mit neuen Wahlmöglichkeiten in einer »Multioptionsgesellschaft« 17 zu tun, sondern mit einer (neuen) Individualisierung in allen möglichen Lebensbereichen, bei der es nicht mehr um Konformität, sondern um ein Besonders-Sein, um das singuläre Ich geht. Dieses »neue Ich«, wie ich es nennen will, findet in vielfältiger Weise seinen Ausdruck – und nicht nur das, Ausdrucksformen und Lebensweisen (in der sozialwissenschaftlichen Theorie spricht man auch von sozialer Praxis) fabrizieren dieses neue Ich sogar.
Früher trank man Filterkaffee (meine Oma nannte es immer Bohnenkaffee) der Sorten Dallmayr Prodomo, Jacobs Krönung oder die Feine Milde von Tchibo. Heute kauft man ganze Bohnen (für den eigenen Kaffeeautomaten natürlich) beim Barista seines Vertrauens, der Kaffee wie teuren Whiskey oder Wein zelebriert. Hin und wieder kommt sogar der Kleinbauer Pedro aus Costa Rica vorbei und informiert auf einer Europa-Tournee über seine nachhaltigen Anbaumethoden und die Qualität des Kaffees. Das schafft Kundenbindung.
Ohnehin, besonders beim Genuss von Lebensmitteln will man heute einzigartig sein. Man ist, was man isst. Sushi beispielsweise als (immer noch) etwas Besonderes, was die Eltern einfach nicht verstehen wollen: »Roher Fisch auf kaltem Reis mit Algen tun die doch in den Müll«, krakeelt Rainald Grebe dazu ins Mikrofon. Es kann auch mal ein (Gemüse-)Döner sein, dann aber natürlich von »Mustafa« in Berlin-Kreuzberg am Mehringdamm – lange Schlange garantiert, ein Astra als Wegbier in der Hand.
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