Reiseziele, ein anderes Beispiel, schreibt Andreas Reckwitz, »können sich nicht länger damit begnügen, einförmige Urlaubsziele des Massentourismus zu sein. Es ist vielmehr die Einzigartigkeit des Ortes, die besondere Stadt mit authentischer Atmosphäre, die exzeptionelle Landschaft, die besondere lokale Alltagskultur, denen nun das Interesse des touristischen Blicks gilt.« 18 Besagter Dirk sieht das auch so: »Asien ist nicht mehr mein Fall, Asien – ist total überlaufen«, singt Grebe.
Katalogmöbel sind uncool, stattdessen lieber die Vitrine aus dem 19. Jahrhundert, am besten noch eigenhändig restauriert. »IKEA kommt mir nicht ins Haus. Bis auf den Tisch da, der ist von IKEA. Der sieht aber nicht nach IKEA aus«, heißt es in Grebes Song weiter.
Das neue Ich
Dies sind nur einige Beispiele, die auf einen neuen Typus von Mensch im 21. Jahrhundert hindeuten. Doch nicht nur in Konsumpraktiken drückt sich das neue Ich aus und bildet sich heraus. Entsprechende Praktiken finden sich auch in anderen, ja im Grunde in allen Lebenskontexten: im Bereich der Arbeit (cooler Start-up-Gründer statt Investmentbanker, Tischler statt Ingenieur, trotz erfolgreich verlaufener Karriere sich noch einmal völlig neu erfinden), in partnerschaftlichen Beziehungen (offen und experimentell statt öde Ehe, auch mal ganz anders: Single aus Berufung) oder im Bereich der Sexualität (»nichts muss, alles kann«). All diese Formen von Lebenspraxis sind stark expressiv, und es ist wichtig, darüber mit anderen zu kommunizieren.
Es mag paradox erscheinen, aber obwohl das neue Ich seine Identität aktiv sucht, gestaltet und in den Lebensmittelpunkt stellt, weist es eine vergleichsweise geringe Identität 19 auf, und zwar nach innen wie nach außen.
Eine Identität wird im Rahmen der neuen Individualisierung nicht einfach angenommen. Sie wird vielmehr in einem stetigen Prozess erarbeitet, in einer Auseinandersetzung mit sich selbst und in der Interaktion mit anderen. Dies ist, wie gesagt, kein einmaliger Vorgang nach dem Motto: Ich entscheide mich für eine Ausbildung als Bankkaufmann bei der Deutschen Bank, und dort arbeite ich dann bis zur Pensionierung; oder ich wähle mit 18 Jahren die CDU, und dabei bleibe ich ein Leben lang. Das ist die alte Welt.
In Anlehnung an das erste Kapitel kann man auch sagen, dass die Identität des neuen Ichs fluide ist, jedenfalls einen anderen Aggregatzustand aufweist, als dies in früheren Zeiten der Fall war. Daraus resultiert zum einen eine geringere Verlässlichkeit und Erwartungssicherheit über das Verhalten der Menschen. (Womöglich erklärt dies auch, weshalb Wahl- und Abstimmungsprognosen, wie bei den letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlen oder bei der Brexit-Abstimmung 2016, inzwischen so danebenliegen können.) Zum anderen bedeutet die Herausbildung einer Identität des neuen singulären Ichs harte Arbeit, denn es handelt sich dabei um einen nie abgeschlossenen Entwicklungsprozess. Dies kann in der Wahrnehmung ebenso befreiend wie überfordernd und angstbehaftet wirken; es ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich oder auch beim Einzelnen mal so und mal so. Fertig ist das singuläre Ich allein schon deshalb nie, weil sich das Einzigartige ja in Differenz zu anderen manifestiert. Ein Tattoo ist inzwischen uncool, denn das hat heute jeder. Man wird daher neue Distinktionsmerkmale finden müssen – wieder und immer wieder. Die Selbstverortung des neuen Ichs ist schwindelerregend.
Zurück zu Klaus, Beate, Uschi und Dirk, den zwei Pärchen aus Berlin-Mitte: Ob es sich um Urlaubsreisen, den Genuss von Lebensmitteln oder um Möbel handelt, es geht in der über sie erzählten Geschichte nicht um Distinktionsbemühungen eines bestimmten sozialen Milieus oder umgekehrt um Identifikation mit einem ausgewählten Milieu, zu dem man gerne gehören möchte. Es geht darum, ein Einzigartiger zu sein. Natürlich ist das eine Fiktion, wie uns Rainald Grebe spitzzüngig vorführt, denn Klaus, Beate, Uschi und Dirk gibt es millionenfach oder, um es mit einer Zeile aus einem andern Grebe-Song zu sagen: »Die Menschen sehen alle gleich aus, irgendwie individuell.« Auch der Sushi-Abend ist im Grunde konventionell und mit konservativen Haltungen heftig durchsetzt: »Reich mir mal den Rettich rüber.« Das neue Ich ist aber eine Fiktion, die für die Subjekte funktioniert.
Klaus, Beate, Uschi und Dirk essen übrigens schon lange kein Sushi mehr. Grebes Song stammt aus dem Album Volksmusik aus dem Jahr 2007. Inzwischen haben die vier neue Distinktionen gefunden: Klaus und Dirk wurden ein homosexuelles Paar, Beate gründete ein Start-up und Uschi wird dieses Jahr den Kilimandscharo besteigen. Erst mal. Dann kommt wieder etwas Neues. Wieder und immer wieder.
Alte Institutionen, neues Ich
Das neue Ich ist nicht nur für das Leben des Einzelnen relevant, es führt auch zu durchaus massiven gesellschaftlichen Veränderungen, die heute schon zu beobachten sind.
Die Zeit der Aufklärung und die damit verbundene Emanzipation von traditionellen Autoritäten, wie feudalen Herrschaftssystemen oder der Kirche, kann als die Epoche der Erfindung des Individuums verstanden werden. Wenn wir heute oft negativ konnotiert von einer individualisierten Gesellschaft sprechen, so sollte im Lichte dieser Entwicklung nicht vergessen werden, welche liberale und freiheitliche Kraft damit verbunden war, von der wir auch heute noch als freie Menschen profitieren. (Richtig verstandene) Freiheit ist ein hohes, vielleicht das höchste Gut.
Wesentlicher für die Argumentation hier scheint, dass sich in der Moderne (im Anschluss an die Aufklärung) neue oder modifizierte Institutionen herausgebildet haben. Dies war nötig, um die neue Gesellschaft zu koordinieren, die nicht nur ihre Orientierung an traditionellen Herrschaftsregimen verloren hatte (und verlieren wollte), sondern sich auch von kleinen Gemeinschaften hin zur anonymen Großgesellschaft entwickelte. Und es ging auch darum, mit den neuen Institutionen so etwas wie einen »Bürgersinn« zu schaffen, der ja nicht vom Himmel fällt, sondern erlernt und entwickelt werden muss. Die Herausbildung eines Parteiensystems, die Entwicklung des modernen Rechtswesens sind ebenso Beispiele für neue institutionelle Arrangements wie die Entwicklung von Medien, die Gründung von Gewerkschaften oder die Modernisierung der Wissenschaften und des Bildungswesens.
Isolde Charim sieht nun im Übergang vom klassischen Subjekt zum neuen Ich einschneidende Veränderungen, die das soziale Gefüge der Gesellschaft geprägt haben und verstärkt prägen werden.20 Da es dem neuen Ich immanent ist, sich als singulär zu verstehen, ist per se die Zugehörigkeit zu Großgruppen wie politischen Parteien, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen für die Subjekte kaum mehr interessant oder wird maximal nur noch temporär gepflegt. Hinzu kommt, dass das neue Ich sich erleben und bestätigen will, verändern will es sich nicht: »Im Zeitalter der Authentizität«, schreibt Charim dem kanadischen Philosophen Charles Taylor folgend, »gehe es nicht nur darum, einen eigenen Weg zu wählen – eine eigene Kirche, eine eigene Partei oder sonst eine eigene Gruppierung –, sondern darum, dass diese ›mich ansprechen‹ muss … als der, der ich bin.« 21 Und schließlich, noch einen Schritt weiter: Gesellschaftliche Institutionen, die das Subjekt verändern wollen, werden vom neuen Ich nicht nur auf Abstand gehalten, sondern auch aufgrund ihrer moralbildenden Absichten skeptisch betrachtet und kritisiert. Dies passt dazu, dass sich die Identität des neuen Ichs weniger aus Gemeinsamem als aus Unterschieden speist.
Neukonfiguration der Gesellschaft
Diese hier nur angedeutete Perspektive wirft ein Licht auf die Neukonfiguration der Gesellschaft. Sie vermag zum Beispiel den Abstieg der großen Volksparteien (siehe dazu das folgende Kapitel), den massiven Mitgliederschwund bei Gewerkschaften, Kirchen und ähnlichen Großgruppen erklären.
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