Wenn es stimmt, dass der Kapitalismus moderne Gesellschaften in massiver Weise prägt und wir es ebenso als zutreffend betrachten, dass die ökonomische Logik in vielfältige Lebensbereiche und gesellschaftliche Wertsphären außerhalb der Ökonomie eingeflossen ist und dort maßgeblich Wirkungen entfaltet, so müssen für eine Gesellschaftsdiagnose diese ökonomisch-gesellschaftlichen Verflechtungen in den Blick genommen werden.
Blick auf eine schwindelerregende Gesellschaft
Von Johann Wolfgang von Goethe ist überliefert, dass er an Höhenschwindel litt und während seiner Studienzeit in Straßburg (1770) regelmäßig auf den Turm des Münsters stieg (seinerzeit der weltgrößte Kirchturm). Nach eigenen Berichten hat ihm das, was Therapeuten heute eine »systematische Desensibilisierung« oder »Angst-Konfrontationsmethode« nennen würden, geholfen, seine Schwindelgefühle zu überwinden.6 Womöglich hat der Ausblick vom hohen Kirchturm auch seine Sicht auf eine sich verändernde Gesellschaft inspiriert, also den Umbruch von einer feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, den er besonders in Wilhelm Meisters Lehrjahre und Faust II zum Thema machte.
Mit einem Umbruch haben wir es auch in der heutigen Gesellschaft zu tun, gleichwohl in einer ganz anderen und deutlich komplexeren Art und Weise. Um Entwicklungen in unserer schwindelerregenden Gesellschaft besser zu verstehen, wird auch hier der »Blick von oben« eingenommen – »von oben drauf«, nicht »von oben herab«, wohlgemerkt.
Die in dieser Einleitung für den Anfang gesponnenen Fäden sind in den nun folgenden Texten aufgenommen und – so die Absicht – zu einem Gewebe verknüpft, das das Muster der schwindelerregenden Gesellschaft erkennbar machen soll. Die hierzu versammelten Texte basieren weitestgehend auf Debattenbeiträgen, die ich in den letzten Jahren (teilweise gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen) insbesondere bei der Zeit, bei Zeit Online, Spiegel Online und in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert habe. Sie umreißen ausgewählte Facetten eines gesellschaftlichen Umbruchs, in dem wir uns aktuell befinden und der in weiten Teilen durchaus Anlass zur Besorgnis gibt. Es geht mir mit diesem Buch einerseits darum, einen Beitrag zu einem besseren Verständnis unserer Gesellschaft zu leisten. Die für diesen Zweck behandelten Themen decken dabei bewusst ein durchaus breiteres inhaltliches Spektrum ab. So werden gesellschaftspolitische und ökonomische Zusammenhänge ebenso angesprochen wie die Rolle der Medien und des Journalismus, bildungspolitische Aspekte ebenso thematisiert wie das Wissenschaftssystem, Themen der Digitalisierung und der Robotik ebenso behandelt wie Fragen der Ethik. Andererseits will ich mich in meinen Ausführungen nicht damit begnügen, lediglich eine Gesellschaftsdiagnose anzufertigen. Auch wenn mit den folgenden Texten mehr Fragen aufgeworfen werden als Antworten gegeben werden können, will ich hin und wieder durchaus auch konkrete Hinweise und Orientierungen formulieren, verbunden mit der Hoffnung, einige praktische Impulse für eine bessere Gesellschaft setzen zu können.
Ich beginne im ersten Teil des Buches damit, die unübersichtlicher und fragmentierter werdende Gesellschaft zu charakterisieren, die an einer Schwelle steht, an der es die alte Welt nicht mehr gibt und die neue noch nicht da ist. Diese sogenannte liminale Periode des »Dazwischen« sorgt für individuelle wie gesellschaftliche Unsicherheiten im sozialen Raum, wodurch die Gesellschaft anfällig wird für betrügerische Schwindeleien, die wiederum neue Unsicherheiten stimulieren – ein Teufelskreis. Die Gründe dafür sehe ich unter anderem in der Herausbildung eines »neuen Ichs«, das sich als etwas Einzigartiges, etwas Besonderes versteht. Das neue Ich will sich erleben – im Konsum, bei der Arbeit, in Partnerschaften, in der Sexualität, im Politischen, ja in allen Lebensbereichen. Die gesellschaftlichen Institutionen sind jedoch auf die Emotionen, das expressive Handeln und die Kritik des neuen Ichs an der bestehenden Ordnung nur ungenügend vorbereitet. Dies zeigt sich unter anderem im Politischen, wo dringend über neue Formen der gesellschaftlichen Teilhabe und der Partizipation nachgedacht werden sollte, will man nicht im Zustand des politischen Dauerflashmobs enden. Dass die Gesellschaft aus den Fugen ist, zeigt sich auch in der politischen Gemengelage und den Veränderungen in der Parteienlandschaft, was die großen Volksparteien besonders hart trifft. Der Niedergang der Sozialdemokraten in Deutschland, so will ich zeigen, ist dafür eine Illustration und ein schmerzliches Beispiel. Der Partei fehlen die Heldengeschichten, inzwischen hat sie praktisch keine (guten) Geschichten mehr zu erzählen.
Unter dem Titel »Abgründe und Gratwanderungen« versammelt der zweite Teil des Buches neun Texte zu verschiedenen Facetten der Ökonomie. Es gibt, wie ich meine, systemische Gründe dafür, weshalb die Wirtschaft und die Wirtschaftswissenschaften »Schwierigkeiten mit der Moral« haben. Sie liegen ideengeschichtlich im Konzept eines »halbierten Liberalismus« und einer mitunter zu großen ideologischen »Liebe zum Markt«. In praktischer Hinsicht komme ich – vor dem Hintergrund der Abgasmanipulationen durch Volkswagen und die Geschäftspraktiken von Facebook, zwei Beispiele, die symptomatisch für eine Vielzahl anderer Fälle stehen – zu der Einschätzung: Der Wahnsinn hat Methode. Aus diesen Bestandsaufnahmen folgen einerseits Überlegungen, die dafür plädieren, die Wirtschaftswissenschaften kulturtheoretisch zu wenden, denn »Ökonomie ist Kultur«. Andererseits leiten sich daraus in den folgenden Texten praktische Hinweise auf zum Beispiel eine veränderte Ordnungs-, Unternehmens- und Bildungspolitik ab.
»So ein Theater – Medien, Wissenschaft, Schauspiel« heißt der dritte Buchabschnitt. Die öffentlich-rechtlichen Medien abschaffen? Zum Glück (noch) nicht, sind sie doch eine »Bastion der Demokratie«, die auch zu verhindern hilft, dass die gesamte Medienlandschaft in die Hände interessierter Milliardäre fällt, die aus dem Prozess der Meinungsbildung machtpolitisches Kapital schlagen. Wie verhält es sich aber eigentlich mit den Rezipienten? Eine Demokratie funktioniert nicht ohne aufgeklärte Bürger, die sich auch über die Medien eine Meinung bilden. Aber informiert und bildet sich der Bürger im Zeitalter des Internets wirklich noch? Oder begnügt er sich damit, in »Retweets, Hashtags, Likes« jeweilige Befindlichkeiten, spontane Meinungen und – nicht selten – überschäumenden Hass abzulassen? Warum so ein Theater? – will ich dann fragen, wenn sich herausstellt, dass ein junger Journalist seine Reportagen manipuliert hat. Dieser Schwindel überrascht eigentlich nicht wirklich, dennoch standen die Medien Kopf nach der entsprechenden Meldung. Dabei könnte die nüchterne Betrachtung helfen, den tatsächlich zugrunde liegenden Problemen auf die Spur zu kommen. Und schließlich nach »Fake News« jetzt auch noch »Fake Science«? Davon jedenfalls war eine Gruppe von Journalisten überzeugt – und lag damit ziemlich daneben. Es gibt Probleme in der Wissenschaft, aber andere – als da sind fehlgeleitete und eindimensionale Anerkennungssysteme und eine gefährliche Nähe zur Privatwirtschaft. Letzteres wird durch das Sponsoring eines Forschungsinstituts durch die Firma Facebook an der Technischen Universität München klar veranschaulicht. Und warum es Theater auch im Theater gibt, zeige ich zuletzt noch an Ferdinand von Schirachs interaktivem Stück Terror, mit dem sich der gelernte Jurist schwer vergriffen hat. Es gibt Dinge, zum Beispiel Menschenleben, über die sich einfach nicht abstimmen lässt.
Im vierten und letzten Teil des Buches wage ich den Blick in die nahe Zukunft, die, das zeichnet sich sehr deutlich ab, massiv durch ein Voranschreiten in den Bereichen der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz geprägt sein dürfte. Wir sollten diese Entwicklungen mit Augenmaß begleiten, denn sie bieten ebenso Chancen wie Risiken. Eine Form der Kritik an der künstlichen Intelligenz konfrontiert die Gegenwart oder mögliche Zukunft gerne mit hehren Ideen und übersieht dabei leider oft die natürliche Dummheit des Menschen. Die Ambivalenz bestimmter Entwicklungen zeigt sich im Bereich der Robotik, wie der Beitrag »Dingsbums – Sex mit der Maschine« exemplarisch illustriert. Dieses Beispiel ist nicht nur instruktiv für einen extremen Fall von Mensch-Maschine-Interaktionen, sondern lädt zum Philosophieren über eine »Roboterethik« und eine neue Ethik insgesamt ein, wie die beiden daran anschließenden Kapitel andeuten. Die neuen technischen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung werden unser Handeln jedoch nicht nur in sozialen Nahbereichen und durch direkte Interaktionen mit Maschinen prägen, sondern auch die Weltgesellschaft gehörig durcheinanderwirbeln. Und womöglich wird sogar der Kapitalismus in naher Zukunft abdanken müssen, denn in China entwickelt sich durch das sogenannte »Social Credit System« ein Vorhaben, für das ich als Folge eine Renaissance der Planwirtschaft à la Lenin 4.0 prognostiziere und einen neuen Systemwettbewerb, bei dem die totgesagte Planwirtschaft durch den Einsatz neuer technischer Möglichkeiten den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften kräftig Konkurrenz machen dürfte.
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