Thomas
Beschorner
In schwindelerregender Gesellschaft
Gleichgewichtsstörungen der modernen Welt
Für Jutta
Inhalt
Einleitung In schwindelerregender Gesellschaft
Teil I
GESELLSCHAFT AUS DEN FUGEN
Kapitel 1
Der überforderte Mensch und die Erosion der Gesellschaft
Kapitel 2
Fluide Identitäten und das neue Ich
Kapitel 3
Die Gesellschaft als Flashmob
Kapitel 4
Heldengeschichten in der politischen Gemengelage
Teil II
ABGRÜNDE UND GRATWANDERUNGEN
Kapitel 5
Die Wirtschaft und ihre Schwierigkeiten mit der Moral
Kapitel 6
»Don’t call it a scandal«: Der Wahnsinn hat Methode
Kapitel 7
Facebook: Unschuldig am Pranger (Satire)
Kapitel 8
Wirtschaftswissenschaften: Auf dem moralischen Auge blind
Kapitel 9
Liebe zum Markt: Eine Glosse
Kapitel 10
Wohlstand für alle? Die halbe Wahrheit, der ganze Irrtum
Kapitel 11
Wirtschaft ist Kultur – was denn sonst!
Kapitel 12
Plattformkapitalismus: Die Lizenz zum Wirtschaften
Kapitel 13
Das kann Schule machen – Vorschläge für eine ökonomische Allgemeinbildung
Teil III
SO EIN THEATER – MEDIEN, WISSENSCHAFT, SCHAUSPIEL
Kapitel 14
Öffentlich-rechtliche Medien: Bastion der Demokratie
Kapitel 15
Retweet, Hashtag, Like: Die Toilettentür der neuen Zeit
Kapitel 16
Ethik des Journalismus: Spiegel der Gesellschaft
Kapitel 17
Fake Science? – Die Wissenschaft hat festgestellt …
Kapitel 18
Gekaufte Wissenschaft?
Kapitel 19
»Und die Moral von der Geschicht …« – Unsinn im Theater
Teil IV
DIGITALE ETHIK: WIR UND DIE ANDEREN – IN ZUKUNFT
Kapitel 20
Künstliche Intelligenz und natürliche Dummheit
Kapitel 21
Dingsbums – Sex mit der Maschine
Kapitel 22
Roboterethik: Die Schlüsselfrage
Kapitel 23
Mensch, Maschine!
Kapitel 24
Lenin 4.0 – Renaissance der Planwirtschaft?
Danksagung
Über den Autor
Impressum
Einleitung – In schwindelerregender Gesellschaft
Nein, Ihr Auge spielt Ihnen keinen Streich. Es handelt sich bei diesem Textbild auch nicht um einen Produktionsfehler. Die Gesellschaft ist schwindelerregend geworden. Sie präsentiert sich in schrägen Formen und mit systematischen Schieflagen. Wir scheinen den Gleichgewichtssinn verloren zu haben.
Ganz schön schräg
Ließe man die Geschichte der Menschheit mit dem dicken Pinsel aufzeichnen, so könnten in den Extremen zwei Erzählungen entstehen: Optimisten würden eine Erfolgsgeschichte schreiben, schließlich wurden in weiten Teilen der Welt freiheitlich-demokratische Gesellschaften realisiert und wurde damit eine beachtliche Anzahl moralischer Errungenschaften hervorgebracht. Pessimisten hingegen würden wohl viel von anhaltenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten oder der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, besonders in den vergangenen gut 200 Jahren, berichten. In diesem Buch wird es nicht um das große Bild der Menschheitsgeschichte gehen, sondern um ein bescheideneres Vorhaben, nämlich Zeitdiagnosen zur Gegenwart und auch zur Zukunft unserer Gesellschaft anzubieten.
Ob man nun Optimist oder Pessimist ist, man liegt sicherlich nicht falsch, wenn man zu der Einschätzung gelangt, dass unsere derzeitige Gesellschaft irgendwie aus den Fugen geraten ist. Der Fugenkitt der Gesellschaft wird porös und kann deshalb nicht mehr alles stabil zusammenhalten. Einstürzende Neubauten? Oder auch Altbauten? Das weiß derzeit niemand, denn wir sind ja mittendrin in einem Prozess der gesellschaftlichen Veränderung, und dieses »Mittendrin« betrifft natürlich auch die Beobachter. Heute das Heute verstehen zu wollen steht stets unter dem Vorbehalt, einen notwendigen Abstand nicht haben zu können – niemand, niemals. Erst in der Zukunft, wenn die Gegenwart zur Vergangenheit geworden ist, können wir die Dinge klarer sehen. Dann jedoch könnten alarmierende Entwicklungen stattgefunden haben, die schwierig zu korrigieren oder gar irreversibel sind.
Was man jedoch trotz dieser (auch selbstkritischen) Auffassung zu Versuchen von Zeitdiagnosen wenigstens feststellen kann (und auch die größten Fortschrittsoptimisten einräumen müssten): Es rumort gehörig in der modernen Gesellschaft. Sowohl die Ausdrucksformen als auch die Gründe dafür sind mannigfaltig – und ganz schön schräg.
Die Wirtschaft steckt spätestens seit der Finanzkrise 2008 in einer Legitimationskrise. Liberale Demokratien werden von außen durch Terrorismus und autoritative Gesellschaftssysteme sowie von innen durch Populismen unterschiedlicher Art bedroht. Rechte Bewegungen in Europa oder die neuen Formen des politischen Populismus insgesamt stellen mehr oder weniger offen rechtsstaatliche Prinzipien, demokratische Grundlagen und die liberale Idee infrage; den Medien, Intellektuellen und Wissenschaftlern wird nicht mehr vertraut; offene Wertkonflikte in der Mitte der Gesellschaft drohen zu eskalieren; Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung führen zu Unsicherheit und Zukunftsangst, aus denen wiederum im Wortsinn fantastische Erzählungen ausfließen können.
Schwindel im sozialen Raum
Der Begriff des »Schwindels« erscheint mir als Metapher für die Umschreibung aktueller Entwicklungen gut geeignet: Die Gesellschaft ist in der zweifachen Bedeutung des Wortes, wie ich meine, »schwindelerregend« geworden: Sie erzeugt Schwindelgefühle und macht wackelige Knie im Sinne von psychologischer, sozialer und gesamtgesellschaftlicher Verunsicherung. Die Gesellschaft ist unübersichtlich geworden. Man kommt nicht mehr so recht mit, manchmal auch nicht mehr hinterher. Die moderne Welt hat Gleichgewichtsstörungen.
Damit lockt die Gesellschaft Schwindler an, die mit einfachen Antworten aufwarten, ausgedachte Geschichten ohne einen Bezug auf Fakten oder wissenschaftliche Befunde erzählen, ja sogar die Geschichte neu zu schreiben versuchen. Sie zweifeln Berichterstattungen in den Medien ebenso an wie wissenschaftliche Studien, wenn deren Befunde nicht in ihr entsprechendes Weltbild passen. Von »Fake« wird dann neudeutsch gesprochen und davon, dass es ohnehin keine Deutungshoheit gebe, meint: Es gibt Fakten, aber auch alternative Fakten. Wahrheit wird zur Verhandlungssache. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur.
Werfen wir einen kurzen Blick zum Begriff des Schwindels in ein Standardlexikon, so heißt es beispielsweise im Brockhaus, dass es sich um eine »subjektive Störung der Raumorientierung des Körpers, meist bedingt durch fehlende Koordination beziehungsweise Meldungen aus den Gleichgewichtsorganen« handelt.1 Gemeint ist hier also das körperliche Symptom »Schwindel« als physisch erlebbares Taumelgefühl, auch »Vertigo« genannt.
Der Wortursprung von Schwindel liegt in der Tat im Ausdruck für ein Körpergefühl, wie das althochdeutsche Wort »swintilōn« (in Ohnmacht fallen, Schwindel empfinden), etwa seit dem achten Jahrhundert gebraucht, verrät. Seit dem späten 18. Jahrhundert, so informieren die Einträge im Grimm’schen Wörterbuch in der Ausgabe aus dem Jahr 1898, findet sich jedoch eine Bedeutungserweiterung des Begriffs »Schwindel«. So ist dort die Rede von »behauptung, meinung u. ähnl., die nicht genügend fundiert, leichtfertig, irrig oder erlogen ist« oder »einen unbesonnenen, unsoliden handel bezeichnet, meist als ausdruck moralischer verurtheilung«.2 Diese Bedeutung des Wortes sollte etwas später auch im Englischen als »swindle« eine Begriffskarriere machen.
Und auch Bezüge zur Wirtschaft, die im Folgenden eine wichtige Rolle spielen, finden sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts, wenn formuliert wird: »so besonders kaufmännisch von einem unreellen geschäfte, nahezu soviel wie betrug: ›der schwindel in der handlung, welcher den marchand avanturier ausmacht‹«.3 Die Begriffsgeschichte hat sich damit, wenn man so will, erweitert: In einer komplexer werdenden Gesellschaft haben wir Probleme, uns im »sozialen Raum« zu orientieren und mit anderen zu koordinieren, weil die »gesellschaftlichen Gleichgewichtsorgane« ambivalente, widersprüchliche und mitunter schlicht falsche »Meldungen« aussenden.
Читать дальше