«Wir werden das Dorf morgen früh angreifen», sagte Pjotr Ivanowitsch und wandte sich an den Artilleriehauptmann. «Bei Sonnenaufgang zerstört Ihr als Erstes die Moschee. Die vierte Kompanie und die Kosaken decken uns den Rücken, die erste, zweite und dritte halten sich dort, dort und dort in Bereitschaft.» Er wies mit der Rechten auf die entsprechenden Standorte. «Eine Viertelstunde nach Beginn des Bombardements werdet ihr den Aul von drei Seiten stürmen. Wer bis dahin nicht geflohen ist, wird niedergemacht.»
«Auch Frauen und Kinder?», wagte Vitus zu fragen.
Baranow schaute ihn stirnrunzelnd an. Dann lachte er dröhnend und schlug ihm seine Pranke auf die Schulter. «Unser Freund ist sich von den Feldzügen gegen die Perser und Türken an eine Kriegsführung gewohnt, in der sich zwei Armeen gegenüberstehen», erklärte er seinen Offizieren, die in sein Gelächter einstimmten. «Wenn Sie zum ersten Mal in einen tatarischen Hinterhalt geraten, Herr von Fenzlau», belehrte er seinen neuen Hauptmann, «wenn Leute von Ihnen getötet werden und sich der Feind blitzschnell zurückzieht, ohne sich dem Kampf zu stellen, werden Sie verstehen, dass das, was wir morgen dort unten tun, die einzige Sprache ist, welche dieses Geschmeiss versteht. Und was die Weiber betrifft: Die bringen kleine Tataren zur Welt, die einmal grosse Draginer, Awaren, Lesghier, Tschetschenen, Tscherkessen oder was auch immer werden, dazu erzogen, Russen zu töten. Es ist besser, wenn wir das Ungeziefer vorher zur Hölle schicken. Sonst noch Fragen?»
Als am nächsten Morgen die ersten Sonnenstrahlen das Tal in helles Licht tauchte, suchte der Major den Blickkontakt mit dem Artilleriehauptmann, dessen Leute die beiden Kanonen geladen und in Stellung gebracht hatten. Er hob die Hand und liess sie fallen. Von Fenzlau hörte den Knall und sah, dass die schwere Eisenkugel in einem Haus unmittelbar neben der Moschee einschlug. Pjotr Ivanowitsch schrie dem Artillerieoffizier etwas zu. Der war aber schon dabei, die andere Kanone zu justieren. Kurz darauf erfolgte erneut der Befehl zum Feuern, und das zweite Geschoss riss ein grosses Loch in die Lehmmauer des Gotteshauses. Inzwischen hatte man das erste Geschütz wieder geladen, und nun legten die Kanoniere Schuss für Schuss jenes Gebäude in Trümmer, in dem die Bewohner des Auls, wie schon ihre Vorfahren, täglich gebetet, in dem sie den Koran gelesen und in dem der Mullah Buben und Mädchen den Glauben an Allah und den Propheten gelehrt hatte.
Durch seinen Feldstecher beobachtete von Fenzlau, wie Frauen, Kinder und Alte aus ihren Hütten kamen, wie sie fassungslos vor ihrer Moschee standen, wie Mütter ihre Säuglinge an ihre Brust drückten, während die Grösseren sich an sie drängten. Es waren keine Männer da, die ihre Familien hätten verteidigen können. Er sah, wie zwei Kinder stürzten und liegenblieben, wie der Kopf des Alten, der sich gestern an der Sonne gewärmt hatte, vom Rumpf getrennt wurde und wie eine Blutfontäne aus dem entseelten Körper schoss. Eine Frau, vielleicht seine Tochter, warf sich über ihn. Von Fenzlau begriff, dass der Greis und die beiden Kinder Opfer eines Schrapnells waren, eines Geschosses, das mit bösartigen Kugeln und Eisenstücken gefüllt war, die, wie er in der Kadettenanstalt gelernt hatte, vor dem Aufschlag mittels einer Treibladung ausgestossen werden. Er hörte Schreie, und dann vernahm er das Trompetensignal, das die drei Kompanien, die in Bereitschaft lagen, losmarschieren liess, dreihundertsechzig Mann mit gefällten Gewehren, auf denen die aufgepflanzten Bajonette blitzten.
Unten im Aul liefen die Dorfbewohner panisch durcheinander. Viele ergriffen die Flucht, suchten sich talaufwärts in Sicherheit zu bringen, andere rannten in ihre Hütten zurück. Wollten sie ihre Habe retten? Dazu haben sie doch keine Zeit, dachte von Fenzlau. Sehen sie denn nicht, dass wir in wenigen Minuten über sie herfallen werden?
Inzwischen schwiegen die Kanonen. Der Major hatte das Bombardement einstellen lassen, damit seine Soldaten nicht Gefahr liefen, von der eigenen Artillerie beschossen zu werden. Der Aul wurde umzingelt. Es war ein tödlicher Ring, aus dem es kein Entkommen gab. Auf die Befehle ihrer Vorgesetzten, zu denen auch Vitus gehörte, drangen die Männer ins Dorf. Sie traten die Türen der Hütten ein. Schüsse fielen, Frauen und Kinder liefen schreiend aus ihren Behausungen, streckten flehend ihre Arme aus und wurden gnadenlos erschossen oder erstochen. Alle, ohne Ausnahme. Nach weniger als einer halben Stunde war es vorbei. Über dem Aul breitete sich eine unheimliche Stille aus.
Hauptmann von Fenzlau betrachtete die Gesichter der Mörder. Russische Soldaten: Leibeigene, ehemalige Bauern, wie ihre Opfer. Man hatte sie aus ihrem Leben gerissen, sie gezwungen, ihre Dörfer und ihre Familien zu verlassen, um dem Zaren im fernen Kaukasus als Soldaten zu dienen. Einige von ihnen machten jetzt Jagd auf Hühner und Gänse, die sich aufgeregt schnatternd vor ihrem Zugriff zu retten versuchten. Andere plünderten die Vorräte der Bewohner des Auls. Sie würden der Truppe als Verpflegung dienen.
Indessen sassen die Offiziere im Schatten der Weiden am Flussufer und liessen sich von ihren Dienern ein üppiges Frühstück servieren, das in der Feldküche zubereitet und herbeigeschafft worden war. Dazu gab es Wodka. Mit zahlreichen Trinksprüchen feierte man den Erfolg der Strafexpedition. Einer sprach sogar von einem siegreichen Feldzug. «Sieg?», sagte von Fenzlau. Seine Stimme zitterte ein wenig. «Gab es denn Gegner, gegen die wir gekämpft haben? Ich jedenfalls habe keine tatarischen Krieger gesehen.»
Es wurde still. Alle Augen richteten sich auf ihn. Auch sein Diener Wassilij sah seinen Vorgesetzten überrascht an. «Diese Kakerlaken, junger Freund», sagte schliesslich Pjotr Ivanowitsch, «haben sich in die Berge zurückgezogen. Sie wussten, dass wir kommen und zählten darauf, dass wir ihre Weiber und ihre Brut am Leben lassen würden. Sie haben sich getäuscht.» Er hob sein randvoll mit Wodka gefülltes Glas: «Auf das Ungeziefer», sagte er und trank es in einem Zug leer.
Zwei Jahre und zahllose Überfälle und Vergeltungsschläge später liess sich Paskewitsch, Graf von Jerewan, als Besieger der Bergvölker Dagestans feiern und reiste nach Warschau, wo er im Auftrag von Zar Nikolaus den Oberbefehl im Kampf gegen die Polen übernahm, die, ähnlich wie die Tataren, auf ihrer Unabhängigkeit bestanden.
Allerdings hatte der Marschall nicht viel mehr erreicht, als die Küstengebiete am Kaspischen Meer und damit die wichtige Handelsstrasse von Persien nach Russland zu sichern. Der Krieg im Gebirge aber ging unvermindert weiter. Anstelle des im Kampf gefallenen Ghazi Muhammed wurde der sufistische Imam Schamil Anführer der Aufständischen, die erst 1859 endgültig unterworfen werden sollten.
Hauptmann von Fenzlau blieb im Nordkaukasus. Als Baranow 1834 Oberst und Festungskommandant von Derbent wurde, avancierte er, protegiert von seinem Onkel, zum Major und übernahm Pjotr Ivanowitschs Bataillon. Für Vitus von Fenzlau war das Töten und Tötenlassen endgültig zum Beruf geworden.
Wenn im Winter Schnee und Eis den Zugang über die Pässe zu den Siedlungen der Aufständischen verunmöglichten, las von Fenzlau viel, und wenn er genug von geistiger Nahrung hatte, vertrieb er sich die Zeit mit Kartenspiel und Huren. Manchmal nahm er Urlaub und reiste nach Tiflis. Er gab sich städtischen Vergnügungen hin und liess sich zu rauschenden Festen in den Gouverneurspalast einladen. Ab und zu traf er dort seinen Onkel. Zusammen besuchten sie die Schwefelbäder. Umhüllt von Dampfwolken liessen sie sich von kundigen Frauenhänden massieren, suchten vornehme Bordelle auf, speisten anschliessend und redeten über dieses und jenes. Jeweils zum Geburtstag schrieben sie sich, berichteten von ihren Erlebnissen in Alchaziche respektive Derbent. Zwei einsame Männer, getrennt durch eine Generation, verbunden durch den gemeinsamen Beruf.
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