Sowohl in der Kadettenanstalt als auch später, unter den Offizieren der Kaukasusarmee, waren die Frauengemächer reicher Muselmanen Gegenstand schlüpfriger Diskussionen gewesen, welche die Phantasie der Jünglinge und Männer angestachelt hatte. Als Vitus jetzt zum ersten Mal eine Frau sah, die aus einem Harem kam, fühlte er sich unbehaglich und befangen. Ihm fiel Hanna Engist ein, die gesagt hatte, über den Schreckenstag von Katharinenfeld gebe es mehr als vierhundert verschiedene Geschichten. Wahrscheinlich war jene, die er soeben gehört hatte, nicht einmal die schlimmste. Er stellte fest, dass die junge Frau am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre. Gleichzeitig sah er die Angst in ihren Augen und spürte, dass sie darauf wartete, dass er ihr etwas sagte, etwas, das ihr Hoffnung gab.
Er erhob sich und legte ihr die Hand auf die Schulter, zog sie aber sofort wieder zurück, als er spürte, wie sich ihr Körper versteifte. Offenbar missdeutete sie seine Geste. Glaubte sie, er wolle ihr zu nahe treten? Was bildete sie sich ein? Vitus war verletzt. Andererseits: Was verstand er schon von Frauen? Seine Mutter, Baronin von Fenzlau, und ihre Schwägerin, Leonore Dreyling, waren Damen: stolz, kühl, unnahbar. Er hatte nie herausgefunden, was sie dachten und fühlten. Dann gab es die Töchter aus adeligen Häusern, denen er in Sankt Petersburg an Bällen und Soireen im Haus des Onkels am Newskij Prospekt begegnet war. Sie trugen anmutige Abendkleider aus teuren Seidenstoffen, und ihre weiblichen Formen wurden durch ein Satinband betont, das unter der Brust zu einer Schleife gebunden war. Ausserdem rochen sie nach teuren Parfums. Ihr Daseinszweck schien einzig darin zu bestehen, darauf zu warten, dass ein meist deutlich älterer Gutsbesitzer, ein hoher Beamter oder ein Offizier um ihre Hand anhielt. Und schliesslich waren da noch die Mägde und Freudenmädchen, mit denen sich ein junger Mann aus gutem Haus gegen ein geringes Entgelt vergnügen konnte, wenn ihm danach der Sinn stand. So wie das Vitus von Fenzlau im Verlauf des Feldzugs der vergangenen zwei Jahre oft getan hatte.
Obwohl sie sich als Hure bezeichnet hatte, gehörte Barbara Grathwohl in keine dieser Kategorien. Doch was ging ihn ihr Schicksal an? «Ich bringe Euch zu den andern zurück», sagte er kühl. «Morgen werde ich Eure Rückkehr nach Katharinenfeld in die Wege leiten.»
Theodor Dreyling hatte seinen Neffen nach der Eroberung von Alchaziche zum Hauptmann befördert und dafür gesorgt, dass er als Kompaniekommandant in die Armee Iwan Fjodorowitsch Paskewitschs eintrat. Der Oberst war der Meinung, ein junger Offizier könne sich nicht mit Ruhm bekleckern, wenn er nichts anderes zu tun habe, als in einer eroberten Provinz für Ruhe und Ordnung zu sorgen. «Du brauchst Kampferfahrung und wirst lernen müssen, unter den Heiden Angst und Schrecken zu verbreiten. Später, wenn du einmal deine Hörner abgestossen hast», schloss er wehmütig lächelnd, «kannst du immer noch irgendwo im Hinterland als Militärstatthalter auf deinen Ruhestand warten.»
Und so war Vitus dabei gewesen, als der zum Marschall avancierte Graf von Jerewan in die Osttürkei vordrang, wo er die Bevölkerung drangsalierte, Dörfer in Flammen aufgehen liess, Kars, Dogubeyazit und Erzurum einnahm, die eroberten Gebiete Transkaukasien einverleibte und endlich dem gedemütigten Sultan im fernen Istanbul den erbetenen Frieden gewährte. Anschliessend folgte der frischgebackene Hauptmann seinem neuen Oberkommandierenden nach Dagestan.
In der Kadettenanstalt hatte man Vitus beigebracht, dass russische Truppen in Transkaukasien stünden, um die christlichen Georgier und Armenier vor der Tyrannei der Muslime zu schützen: den Bergtataren im Norden, den Persern im Süden und den Türken im Westen. Natürlich war das eine fromme Lüge. Die Zaren gierten nach dem fruchtbaren Land zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer. Ausserdem bildete das Kaukasusgebirge die perfekte Grenze ihres Reichs aus Fels und Eis.
Aber auch wenn Alexej Petrowitsch Jermolow, der damalige Generalgouverneur der transkaukasischen Provinzen, bereits 1820 in schamloser Übertreibung der tatsächlichen Lage nach Sankt Petersburg gemeldet hatte, « die Unterwerfung des stolzen kriegerischen und bis dahin unbesiegten Landes liegt zu den geheiligten Füssen Eurer Majestät », mochten die Bergvölker unter ihrem Imam, Ghazi Muhammed, die Herrschaft Zar Niklaus’ noch immer nicht anerkennen. Sie verweigerten dem Feind eine offene Schlacht und fügten stattdessen den Russen empfindliche Verluste zu, indem sie deren Patrouillen aus dem Hinterhalt angriffen und die Festungen und Forts der kaukasischen Linie überfielen, welche die Zaren im Gebirge zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer hatten bauen lassen.
Derbent, die alte, von einem Kastell und hohen Mauern geschützte, orientalische Stadt am Kaspischen Meer, durch deren mächtige Tore Karawanen Richtung Russland zogen, wurde für von Fenzlau für ein paar Jahre zur neuen Heimat. Man wies ihm eine Wohnung im Haus der Frau eines gefallenen Offiziers zu. Sein Diener Wassilij wurde in einer Kammer unter dem Dach einquartiert. Der Russe war zwei Jahre älter als sein Herr. Er war als Leibeigener auf einem Gut in der Gegend von Kasan geboren und als Achtzehnjähriger von seinem Besitzer an die Armee verkauft worden, wo er den gnadenlosen Drill, mit dem man ihn zum Soldaten machte, über sich ergehen lassen musste, bevor er dem jungen Leutnant von Fenzlau als Offiziersbursche zugeteilt worden war. Wassilij hatte seinen Herrn auf den Feldzügen gegen die Perser und Türken begleitet und diente ihm auch jetzt, im Krieg gegen die aufständischen Bergtataren im Grossen Kaukasus.
Im Winter ruhte der Krieg. Aber wenn der Frühling die Bergweiden des Kaukasus in blühende Blumenteppiche verwandelte, kämpfte Vitus wieder gegen die Ungläubigen. Unter grauenhaften Verlusten erstürmte die Armee Paskewitschs Berg um Berg und verwandelte die weit verstreuten Dörfer im Gebirge in rauchende Trümmer.
Es war ein schmutziger Krieg. Was das bedeutete, erfuhr von Fenzlau schon bei seinem ersten Einsatz im Herbst 1830. Drei Tagesritte von Derbent entfernt lag ein dagestanisches Dorf, in dessen Nähe fünf russische Soldaten aus einem Hinterhalt erschossen worden waren und das nun dem Erdboden gleichgemacht werden sollte.
Mit der Exekution des Befehls wurde Major Pjotr Ivanowitsch Baranow betraut. Er galt als Haudegen – kompromisslos, brutal und schlau. Der Vierzigjährige, der aus Moskau stammte, war eine eindrucksvolle Gestalt: Gross und massig, mit kurzem dunklem Haar und einem Vollbart, der weit vor der Zeit weiss geworden war und ihm bei den Soldaten den Spitznamen «Sankt Nikolaus» eintrug. Seine Nase, ein mächtiger Zinken, spielte farblich ins Violette und zeugte von übermässigem Alkoholgenuss. Von Fenzlau kommandierte eine der vier Kompanien seines Bataillons, das durch eine Eskadron Kosaken und einen Trupp Artilleristen mit zwei leichten Kanonen verstärkt worden war.
Während die Soldaten am frühen Abend des 18. Oktobers ihr Lager aufschlugen, befahl der Major seine Offiziere zum Rapport. Sie standen am Rand einer Hochebene, von der ein steiler Hang in ein Tal abfiel. Mückenschwärme tanzten im milden Licht der tiefstehenden Sonne, die bald hinter den frisch verschneiten Gipfeln des Gebirges versinken würde. Von den silbernen, seidenhaarigen Fäden der verwelkten Weideröschen gingen Millionen von Samen ab, die wie Schneeflocken durch die klare Herbstluft segelten. Das Laub von Birken, Eichen und Buchen flammte rot und gelb zwischen den dunklen Tannen. Im Schutz des Waldes sahen die Offiziere unter sich in der Biegung eines Flusses eine tatarische Siedlung. Etwas mehr als drei Dutzend Hütten gruppierten sich um eine kleine Moschee. Zwischen den Behausungen, Ställen und Speichern tummelten sich spielende Kinder. Ein paar Frauen arbeiteten in den winzigen Gemüsegärten hinter dem Dorf. Andere knieten am Flussufer und wuschen Kleider im kalten Wasser. Etwas ausserhalb des Auls drosch ein Halbwüchsiger auf einem abgeernteten Äckerchen Getreide, indem er fünf eng aneinander gebundene Ochsen im Kreis über einen dicken Teppich aus Garben trieb. Ausser einem Alten, der sich auf einer Bank vor seiner Hütte an den letzten Strahlen der Sonne wärmte, waren keine Männer zu sehen.
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