Werner Ryser - Geh, wilder Knochenmann!

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Als der elfjährige Simon am späten Nachmittag des 20. Septembers 1859 aus der Dorfschule ach Hause kommt, ist die Wohnstube des Auenhofs voller Menschen – Mägde, Knechte, Nachbarinnen, Nachbarn. Sie treten zur Seite und öffnen ihm eine Gasse. Der Vater liegt auf dem Tisch. Seine Kleider zerrissen und schmutzig, sein blutverkrustetes Gesicht bleich.
Der Roman erzählt die Geschichte dreier Emmentaler Geschwister, die früh ihre Eltern verlieren und damit auch ihr Zuhause, den Auenhof. Esther muss dem neuen Besitzer als Magd dienen, Jakob kommt zu einer Pflegefamilie, und Simon, der Jüngste, der den Hof geerbt hätte, wird verdingt. Doch Simon lässt sich nicht brechen. Er träumt davon, dass er später einmal sein Glück in einem Land jenseits der Berge finden würde. Am 18. Mai 1866 bricht er zusammen mit seinem Bruder in Langnau auf in Richtung Georgien…

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Werner Ryser

Geh, wilder Knochenmann!

Roman

Im Gedenken an meinen Grossvater Ruedi Ryser Alle Rechte vorbehalten 2019 by - фото 1

Im Gedenken an

meinen Grossvater Ruedi Ryser

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 by Cosmos Verlag AG, Muri bei Bern

Lektorat: René Karlen, Roland Schärer

Umschlag: Stephan Bundi, Boll

Satz und Druck: Merkur Druck AG, Langenthal

Einband: Schumacher AG, Schmitten

ISBN 978-3-305-00477-5

eISBN 978-3-305-00497-3

Das Bundesamt für Kultur unterstützt

den Cosmos Verlag mit einem Strukturbeitrag

für die Jahre 2016–2020

www.cosmosverlag.ch

Inhalt

Die Geschwister Die Geschwister

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Die Brüder

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Jakob

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Werner Ryser: Die grusinische Braut

Vorüber! Ach, vorüber!

Geh, wilder Knochenmann!

Ich bin noch jung, geh, Lieber!

Und rühre mich nicht an.

Matthias Claudius

Die Geschwister

1

Nichts hatte darauf hingedeutet, dass Hannes Diepoldswiler, als er am Morgen aufgestanden war, den Abend dieses 20. Septembers 1859 nicht mehr erleben würde. Er war in den besten Jahren, kräftig und kerngesund. Am Vortag hatte er vier Tauner, die ihm zur Hand gingen, wenn Not am Mann war, aufgeboten, ihm zu helfen, das Gras einzubringen, das sie am Samstag geschnitten und seither zum Trocknen liegen gelassen hatten. Seit Tagen herrschte ungewöhnlich warmes Nachsommerwetter. Die Sonne brannte heiss auf die Rücken der Männer, während sie mit ihren Gabeln das Heu auf den Wagen luden, den Diepoldswiler, Fuhre um Fuhre, zum Auenhof brachte, wo es seine beiden Knechte auf den Haufen des dürren Grases aus der Juniernte schichteten, der jetzt bis unter den First des Tenns wuchs.

Im Lauf des Nachmittags hatte sich am westlichen Horizont eine mächtige schwarze Wolkenwand aufgetürmt, eine Front, die sich rasch näherte. Die Tauner drängten darauf, die Arbeit abzubrechen und das Heu in Gottes Namen ein zweites Mal trocknen zu lassen. Aber der Bauer, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, auch noch die letzten drei Fuhren einzubringen, wollte nichts davon wissen.

Und dann kam Wind auf. Innert Minuten war das weite Land mit seinen bewaldeten Hügeln in eine bleierne Düsternis gehüllt. Sintflutartig stürzte das Wasser vom Himmel. Als Hannes Diepoldswiler mit dem leeren Wagen vom Tenn zurückkam, entlud sich direkt über ihm ein Unwetter von apokalyptischen Ausmassen, ein wahres Inferno. Den Elementen trotzend stand er mit nacktem Oberkörper breitbeinig auf dem Wagen. Fluchend schlug er mit der Peitsche auf die Pferde ein. «Ho», schrie er und «vorwärts ihr Teufel!» Aber die Gäule, erschreckt vom grellen Licht der Blitze und den fast gleichzeitig krachenden Donnerschlägen, scheuten, bäumten sich in ihrem Geschirr auf, brachen aus und liefen in einen abgeernteten Rübenacker. Vergeblich versuchte Diepoldswiler, sie zum Stehen zu bringen. Der Wagen schwankte. Der Bauer stürzte von der Ladefläche. Es gelang ihm nicht, sich von den Zügeln zu befreien, die er um sein linkes Handgelenk geschlungen hatte. Verzweifelt klammerte er sich an der Deichsel fest, während seine Beine über den Boden schleiften. Das Gefährt kippte zur Seite. Sinnlos drehten sich zwei Räder in der Luft. Spürte er noch, wie ihn ein Huf eines der Tiere, das in seiner Panik auskeilte, an der Schläfe traf? Endlich blieben die Pferde stehen, zitternd vor Angst und Erschöpfung.

So rasch wie es gekommen war, zog das Gewitter weiter. Der Regen liess nach, und im Westen wurde ein heller Streifen sichtbar. Der Bauer bekam davon nichts mehr mit. Als die Tauner den Ort des Unglücks erreichten, war er bereits tot.

Als der elfjährige Simon Diepoldswiler am späten Nachmittag aus der Dorfschule nach Hause kam, war die Wohnstube des Auenhofs voller Menschen – Knechte, Mägde, Nachbarinnen, Nachbarn. Sie traten zur Seite und öffneten ihm eine Gasse, so wie sie es zuvor bereits bei Esther und Jakob, Simons älteren Geschwistern, getan hatten.

Der Vater lag auf dem Tisch. Seine Kleider zerrissen und schmutzig, sein zerschlagenes, blutverkrustetes Gesicht bleich. Simon wusste sofort, dass er tot war. Damals, vor zwei Jahren, als er vor der aufgebahrten Leiche seiner Mutter gestanden war, in deren Arm ein totes Kindlein lag, hatte er es nicht wahrhaben wollen. Ihre Reglosigkeit hatte ihn zwar geängstigt, aber zugleich hatte er gehofft, sie erwache wieder. Erst als man sie zusammen mit dem Brüderlein ins Grab versenkte und jemand ihn aufforderte, eine Handvoll Erde auf den Sarg zu werfen, der schwarz aus dem tiefen Schacht heraufdrohte, hatte er verstanden, dass er sie nie wiedersehen würde.

Lena, die alte Grossmagd, die bereits 1811 als Dreizehnjährige in den Dienst der Diepoldswilers getreten war, hatte in der Folge das Regiment im Haushalt übernommen. Das Essen stand auf dem Tisch wie immer, und sie sorgte dafür, dass die Kinder saubere Kleider hatten. Mehr konnte sie nicht tun in diesem Haus, das seiner Seele beraubt worden war.

Als Esther, wie sie es sich nach dem Tod der Mutter angewöhnt hatte, an diesem Abend die Kammer ihrer beiden Brüder betrat, um ihnen Gutenacht zu sagen, lag Simon bereits im Bett. Er hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und starrte an die Balkendecke.

Jakob sass am Tisch und malte. Pfarrer Amsoldinger, bei dem er in den biblischen Unterricht ging, hatte dem zeichnerisch begabten Jungen vor einiger Zeit einen Malkasten geschenkt und ihn in die Technik des Aquarellierens eingeführt. Seither nutzte er jede freie Stunde, um das, was ihn beschäftigte, auf Papier oder Karton festzuhalten.

Esther schaute ihm über die Schultern und betrachtete das Bild, an dem er arbeitete. Vor dem Hintergrund eines nachtschwarzen Himmels stürzte ein in Flammen gehüllter Mann kopfvoran von einem mit vier geflügelten Rossen bespannten Streitwagen ins Bodenlose. Die Darstellung der Pferde, deren Proportionen nicht ganz stimmten, überforderte seine Fähigkeiten. Aber sein Talent war offensichtlich, und mit der entsprechenden Förderung würde er es später zu einer gewissen Meisterschaft bringen.

«Wer ist das?», fragte sie.

«Phaethon», sagte Jakob ohne den Kopf zu heben. Und da er annahm, dass die Schwester mit diesem Namen nichts anfangen konnte, erklärte er, Phaethon sei der Sohn des Sonnengottes Helios, von dem er die Gunst erbeten habe, für einen Tag den Sonnenwagen übers Firmament lenken zu dürfen.

Der Bruder malte, wie so oft, eine der Geschichten aus den Schönsten Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab. Das Buch, das offen auf dem Tisch lag, war ebenfalls ein Geschenk des Pfarrers.

«Er hat sich überschätzt. Die alten Griechen nannten das Hybris.» Jakob wandte der um zwei Jahre älteren Schwester sein von Sommersprossen übersätes Gesicht zu.

Hybris – auch so ein Wort, das er von Pfarrer Amsoldinger hat, dachte Esther und strich ihm das weiche, rote Haar aus der hohen Stirn. «Sich überschätzt? Wie der Vater?»

Jakob gab ihr keine Antwort und widmete sich wieder seiner Malerei. Er war aus der Art geschlagen. Einer, der seine Zeit mit Pinsel und Bücher vertue, sei kein rechter Diepoldswiler, hatte der Vater gezürnt und ihn mehr als einmal als Kuckuckskind bezeichnet. Seit dem Tod der Mutter war der Alte verbittert. Er hatte seine Launen oft an Jakob ausgelassen, der ihm, wenn immer möglich, aus dem Weg ging – gegangen war.

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