Esther setzte sich ans Bett von Simon, der, anders als sein feingliedriger Bruder, ein kräftiger, kleiner Bursche war. «Mein kleiner Stier» hatte ihn der Vater genannt. Nicht nur, weil Simon in diesem Sternzeichen zur Welt gekommen war, sondern weil man schon jetzt sehen konnte, dass er einmal breiter, muskulöser und kräftiger werden würde als Jakob – eben: ein Stier. «Und du – wo bist du mit deinen Gedanken?», fragte sie.
Der Junge schaute die Schwester aus seinen dunklen Augen an. «Jetzt ist er tot», sagte er, «und ich brauche keine Angst mehr zu haben, dass er sich wieder verheiratet.»
«Hast du davor Angst gehabt?»
Simon nickte.
«Aber weshalb denn?»
«Dann hätten wir noch Geschwister bekommen, vielleicht einen jüngeren Bruder.»
«Und darüber hättest du dich nicht gefreut?»
«Nein.» Noch immer lag der Junge, ohne sich zu rühren, auf dem Rücken mit den Händen unter dem Kopf. «Ich bin auch froh, dass der Bub, der Mutter umgebracht hat, tot ist.»
Mehr als einmal hatte Esther gehört, wie der Vater sagte, es sei ein Glück, dass man im Kanton Bern lebe, wo nach geltendem Recht der Betrieb einmal ungeteilt an den jüngsten Sohn gehe. Ein Träumer wie Jakob würde den Hof gewiss herunterwirtschaften.
«Du wirst den Auenhof nie erben.» Jakob unterbrach seine Arbeit und wandte sich im Stuhl halb um. «Sie werden ihn verkaufen.»
Simon setzte sich auf. «Jetzt, wo Vater tot ist, gehört er mir. Niemand darf ihn mir wegnehmen!»
Jakob zuckte mit den Schultern und begann wieder zu malen.
«Sag, dass das nicht wahr ist!» Der Kleine packte die Schwester am Arm.
Esther presste die Lippen aufeinander. «Wir sind jetzt Waisen», sagte sie schliesslich. «Du wirst noch früh genug erfahren, was das bedeutet.» Sie küsste ihn auf die Stirn und verliess den Raum.
Der Auenhof war seit mehr als hundertfünfzig Jahren im Besitz der Familie. Er lag unterhalb von Langnau am Südrand der Schwemmebene, welche die Ilfis im Lauf von Jahrtausenden geschaffen hatte. Er war eines jener stattlichen Emmentaler Gehöfte, dessen mächtiges, mit roten Ziegeln bedecktes Walmdach Wohnhaus, Stall, Speicher und Tenn beschirmte. Besonders prächtig war die nach Südwesten ausgerichtete Giebelfassade mit ihren beiden übereinanderliegenden Reihen von je zehn Fenstern, die durch eine grau gefasste, mit Schnitzereien verzierte Gadenbrüstung getrennt waren. Davor lag der Blumengarten. Den Pflanzplätz hatte man hinter dem Haus angelegt.
Die fünfundzwanzig Jucharten Land, die zum Betrieb gehörten, wurden teils für Viehwirtschaft, teils für den Anbau von Getreide, Rüben, Kartoffeln und Obst benutzt. Was man nicht für den Eigenbedarf brauchte, verkaufte man auf dem Markt. Die Diepoldswiler galten als reich. Sie besassen auch ein Stück Wald, drüben auf der Dürsrüti. Ausserdem betrieben sie an der Ilfis eine Mühle, wohin die Bauern aus den umliegenden Höfen ihr Korn zum Mahlen brachten.
Auch auf dem benachbarten Lindenhof, der auf halber Höhe des Ilfisstalden lag, lebte eine Familie Diepoldswiler. Es gab einen gemeinsamen Ahnherrn, Gottlieb, der in jungen Jahren am Bauernkrieg von 1653 teilgenommen hatte. Dessen Jüngster, Niklaus, hatte den väterlichen Hof geerbt, während sein Bruder Rudolf, von dem Hannes in direkter Linie abstammte, sich auf dem Erbe seiner Frau, Ursula Jacob, unten, am Rand der Schwemmebene, eingerichtet hatte.
Die Auenhof- und die Lindenhof-Diepoldswiler, wie man sie in der Gegend nannte, verkehrten kaum miteinander. Man neidete sich die Butter auf dem Brot, schaute scheel auf den Besitz der jeweils anderen. Die Väter rangelten um Einfluss im Dorf und übernahmen, nur um den Verwandten oben am Ilfisstalden oder unten in der Ebene zu ärgern, Ämter in der Gemeinde. Zurzeit sass der Besitzer des Lindenhofs, Moritz Diepoldswiler, im Gemeinderat, wo er fürs Fürsorge- und Vormundschaftswesen zuständig war. Ausserdem war er Mitglied des Kirchenvorstands. Er und sein Vetter stritten sich seit Jahr und Tag um ein Stück Ackerland. Die Kosten, die ihnen durch ihr endloses Prozessieren entstanden waren, hatten den Wert der Parzelle längst um ein Mehrfaches überstiegen. Aber keiner der beiden war bereit nachzugeben. Mit dem Tod von Hannes war wohl auch der Rechtsstreit entschieden, denn wer sollte dem Lindenhof-Bauern jetzt noch den Acker streitig machen, zumal er als Waisenvogt Vormund von Esther, Jakob und Simon werden würde.
In den drei Tagen, in denen Hannes Diepoldswiler bei geöffnetem Fenster aufgebahrt in seiner Kammer lag, kamen Leute aus der ganzen Umgebung, um einen letzten Blick auf den reichen Bauern zu werfen. Am Freitag, unmittelbar nachdem man seinen Vetter auf dem Gottsacker neben seiner Frau Anna Maria zur letzten Ruhe gebettet hatte, erschien, noch immer in Trauerkleidung, Moritz Diepoldswiler auf dem Auenhof. Er war ein stattlicher Mensch von etwa fünfzig Jahren. In seinem vollen, dunklen Haar war noch keine graue Strähne zu sehen. Ein sorgfältig gestutzter Schnurrbart verdeckte die Oberlippe. Ohne anzuklopfen, betrat er die Wohnstube, wo die Kinder des Verstorbenen und das Gesinde beim Mittagessen sassen. Er legte seinen Zylinder ab und nahm unaufgefordert am oberen Ende des Tisches Platz, dort, wo immer der Vater gesessen war. Ob er mithalten dürfe, fragte er und musterte die kleine Gesellschaft, während ihm Lena einen Teller mit Bohnen, Kartoffeln und Speck auftischte und eine Karaffe mit Wein vor ihn hinstellte.
Er gab sich freundlich, tätschelte Esthers Oberarm, fuhr den beiden Buben durchs Haar. Seine schmalen Augen schienen zu lächeln, und dass er den Freuden einer gedeckten Tafel nicht abgeneigt war, bezeugte ein respektabler Bauch, der die Knöpfe seiner Weste zu sprengen drohte. Er senkte den Kopf und faltete die Hände zum stummen Gebet. Dann zog er seinen Rock aus, hängte ihn über die Stuhllehne und lockerte die schwarze Halsbinde, die er unter den Kragenspitzen zu einer kunstvollen Schleife gebunden hatte.
Während er ass, beobachteten ihn die Kinder. Sie wussten, dass er und ihr Vater zerstritten gewesen waren, und fragten sich, was der Onkel, den man bis heute gemieden hatte, von ihnen wollte.
Endlich legte Moritz Diepoldswiler Messer und Gabel neben den Teller und erklärte, jetzt, nach dem Tod seines Vetters, sei er als Waisenvogt zum Vormund der drei vater- und mutterlosen Kinder, deren Rechte und Wohlergehen ihm am Herzen lägen, bestellt worden. Ab morgen werde sein Sohn Viktor auf dem Hof zum Rechten sehen. Dessen Anweisungen – er fasste Baschi, den Karrer, und Dölf, den Melker, scharf ins Auge – sei Folge zu leisten. Ob jemand Fragen habe?
Viktor war das jüngere Ebenbild des Alten: dunkelhaarig, gross, mit einer Neigung zur Korpulenz und einem Schnurrbart, den er hingebungsvoll pflegte. Auch in seiner Art war er bemüht, sich an das Vorbild des Erzeugers zu halten. Er gab sich freundlich und jovial, war aber darauf bedacht, dass man ihm mit Respekt begegnete. Auf Widerspruch reagierte er mit dem Heben der rechten Braue, steckte die Daumen in die Ärmelöffnungen seiner Weste und drückte die Brust heraus.
Frühmorgens, wenn die Kühe gemolken und auf die Herbstweide getrieben worden waren und man sich in der Wohnstube zum Frühstück an den grossen Tisch setzte, wo Lena heisse Milch, Brot, Butter, Käse und eine Rösti mit Spiegeleiern aufgetischt hatte, las er zuerst einen Text aus der Schrift und sprach ein Gebet, bevor man zu Messer und Gabel greifen durfte. Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen , hatte er bereits am ersten Tag aus dem Buch Josua zitiert und hinzugefügt, solange er das Sagen habe, werde man sich hier – genau gleich wie auf dem Lindenhof – benehmen, wie es sich für Christenmenschen gehöre. Vor dem Essen werde gebetet, vor jedem Essen, und am Sonntag gehe man gemeinsam zur Predigt. Schliesslich sei sein Vater Mitglied des Kirchgemeinderats.
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