Für die Kinder waren die frommen Bräuche neu. Zwar hatte auch die Mutter zu Lebzeiten abends mit ihnen vor dem Einschlafen am Bett gebetet, aber seit ihrem Tod fragte man auf dem Auenhof dem lieben Gott, dem der Vater zürnte, nicht mehr viel nach. An Weihnachten, an Ostern und an Pfingsten ging man nach Langnau in die Kirche. Mehr nicht. Einzig Jakob, der bei Pfarrer Amsoldinger den Unterricht besuchte, kannte biblische Geschichten, die ihn aber vor allem als Vorlagen für seine vielen Zeichnungen interessierten.
Moritz Diepoldswiler erschien häufig. Oft begleitete ihn ein anderer Grossbauer aus der Gegend. Gemeinsam gingen sie in den Stall und über die Felder. Dann verhandelten sie in der Wohnstube hinter verschlossenen Türen. Lena musste ihn und seine Besucher mit saurem Most, Brot und kaltem Fleisch bewirten.
Von den Gesprächen, die der Lindenhof-Bauer in der Wohnstube führte, bekam sie dieses und jenes mit. Sie reimte sich zusammen, dass der Waisenvogt beabsichtigte, einen Teil des Landes, aber auch des Viehs, das Hannes Diepoldswiler gehört hatte, weit unter dem Wert zu verschachern. Die Erkenntnis erfüllte sie mit ohnmächtigem Zorn. Oft genug hatte Lena schon erlebt, wie beim Tod eines Bauern dessen minderjährige Kinder von den Mächtigen im Dorf schamlos um ihr Erbe betrogen worden waren.
Inzwischen hatte der Herbst endgültig Einzug gehalten. Am letzten Sonntag im Oktober waren Esther, Jakob und Simon mit Viktor Diepoldswiler und dessen Vater, wie das neuerdings der Brauch war, in der Kirche gewesen. Esther hatte auf der Frauenseite Platz genommen und sich bemüht, der Predigt Pfarrer Amsoldingers zu folgen. Ihre beiden Brüder, die jenseits des Mittelgangs, zur Linken und zur Rechten von Viktor Diepoldswiler sassen, schienen sich zu langweilen. Während sich Jakob in die Malereien an den Kirchenfenstern vertiefte, legte Simon seinen Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Möglicherweise zählte er die einzelnen Felder der Täfelung. Ganz gewiss hörte keiner von beiden auf das, was der Geistliche zu sagen hatte. Dabei legte der einen Text aus dem Buch Zacharias aus, der, wie Esther begriff, auch sie betraf: Fügt den Witwen, Waisen, Fremden und Armen kein Unrecht zu. Und schmiedet keine bösen Pläne gegeneinander .
Der schlanke, hochgewachsene Mann, der trotz schwarzem Talar und weissem Beffchen mit seinen ausgezehrten Gesichtszügen, dem kurz geschnittenen, grauen Haar und dem gestutzten Bart eher an einen Asketen erinnerte als an einen reformierten Pastor, wandte sich immer wieder seinen Vorgesetzten zu, den Mitgliedern des Kirchgemeinderats, zu denen auch Moritz Diepoldswiler gehörte. Sie alle sassen in ihrem schwarzen Sonntagsstaat im geschnitzten Chorgestühl den Gläubigen gegenüber. Ihre Gesichter blieben reglos. Nur der Lindenhof-Bauer runzelte die Stirn, als der Geistliche den Herrn anflehte, die Herzen jener, die in der Gemeinde das Sagen hatten, zu erweichen und sie barmherzig werden zu lassen gegen die, welche ihrer Hilfe bedurften.
Moritz Diepoldswiler hatte angekündigt, dass er heute den drei Kindern seines Vetters eröffnen wolle, wie es für sie nach dem Tod ihres Vaters weitergehen würde. Stumm schritten sie nach dem Gottesdienst auf der Strasse von Langnau Richtung Auenhof hinter dem Onkel her, der über ihr künftiges Schicksal bereits entschieden hatte.
Er wolle sich kurzfassen, sagte er, als sie endlich in der Stube des Auenhofes sassen. Für sie als Waisen sei von nun an die Gemeinde zuständig. Er als ihr Vormund habe die Beschlüsse des Gemeinderats nach Treu und Glauben umzusetzen. Als Erstes habe man entschieden, den Auenhof zu verkaufen, damit für Kost, Erziehung und Ausbildung der drei Minderjährigen genügend Geld vorhanden sei. Haus, Stall, Speicher und Scheune, die Hälfte des Landes und des Viehbestands habe er selber erworben. Bis er das gesamte Erbe antrete, werde Viktor als Pächter den Betrieb weiterführen und ihm, dem Vater, zinsen. Alles andere habe man an Bauern aus der Gegend verkaufen müssen. Bereits morgen Montag würde ihnen das Vieh übergeben, ebenso das Land, das abzutreten man gezwungen gewesen sei.
«Ihr dürft Vaters Hof nicht verkaufen, Onkel», sagte Simon mit schriller Stimme. «Er hat mir versprochen, dass ich ihn einmal erben werde.»
Der Alte drehte langsam den Kopf und musterte den Elfjährigen, der seinem kalten Blick unerschrocken standhielt. Im Raum wurde es totenstill. Esther und Jakob waren erstarrt, und auch Viktor, der neben seinem Vater sass, rührte sich nicht. Und dann schlug der Lindenhof-Bauer den Jungen links und rechts ins Gesicht. «Du wirst mir nie mehr sagen, was ich tun darf und was nicht!», donnerte er.
Simon, dessen Wangen sich röteten, biss sich auf die Lippen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber er gab keinen Laut von sich. «Ihr dürft den Hof nicht verkaufen», wiederholte er.
Diepoldswiler lehnte sich in seinem Stuhl zurück. «Ich fasse es nicht. Nun, wer nicht hören will, muss fühlen. Sperr den Flegel bis zum Abend in den Keller!», befahl er seinem Sohn. «Vielleicht kommt er dort zur Besinnung.»
Viktor stand auf, packte den sich heftig sträubenden Jungen am Genick und zerrte ihn aus der Stube. Esther begann zu weinen, Jakob sah den Onkel an, als wolle er sich den Ausdruck seines Gesichts für Zeit und Ewigkeit einprägen. Niemand sagte ein Wort.
Erst als Viktor zurückkam und dem Vater zunickte, fuhr der fort, als sei nichts geschehen. Er wandte sich Jakob zu. «Du hast Glück. Dich will Pfarrer Amsoldinger zu sich in Pflege nehmen. Du sollst bei ihm wohnen, und wenn du im nächsten Herbst die Schule beendet hast, will er dich bei Giger in die Lehre geben.»
Wie ein schüchterner Sonnenstrahl huschte ein Lächeln über das Gesicht des Jungen. Ferdinand Giger war ein bekannter Landschaftsmaler. Jakob, der nie hatte Bauer werden wollen, würde bei ihm das Malerhandwerk von Grund auf lernen. Dazu kam, dass der Pfarrer und seine Frau, deren Ehe kinderlos geblieben war, ihn mochten.
«Hör auf zu flennen, Mädchen», fuhr Diepoldswiler Esther an, der noch immer Tränen über die Wangen liefen. «Für dich wird sich nicht viel ändern. Du bleibst hier, als Jungmagd.» Er hob die Stimme: «Hast du verstanden?»
Esther nickte schluchzend. Sie wusste, dass sie, wie jede Bauerntochter in ihrem Alter, ohnehin auf einem Hof als Magd zu dienen hatte, bis jemand sie heiraten würde.
Was mit Simon geschehen werde, wagte sie zu fragen.
«Mit dem? Der wird verdingt. Wir werden ihn bei einem Bauern unterbringen, der ihm seine Flausen austreiben wird.» Diepoldswiler erhob sich. Es sei alles gesagt, was es zu sagen gebe. Er wolle jetzt gehen. Zuhause warte das Mittagessen auf ihn.
Der Kalte Markt, der in diesem Jahr auf den 2. November fiel, war der fünfte der sechs Langnauer Jahrmärkte. Aus der ganzen Umgebung strömten die Leute auf den Bärenplatz zwischen der Kirche, der Kramlaube und den beiden Tavernen. Bauern boten ihre Erzeugnisse an, aber auch Hafner, Lismer, Kessler und Scherenschleifer hatten ihre Stände aufgestellt.
Zwei Tage zuvor hatte man im Emmenthaler Blatt lesen können, dass die Gemeinde vier Heranwachsende im Rahmen einer öffentlichen Absteigerung jenen Familien übergeben werde, die für sie das geringste Kostgeld verlangten. Das Interesse unter den anwesenden Bauern war gross. Mit etwas Glück kam man nicht nur zu einem kleinen Nebeneinkommen; noch wichtiger war, dass man für Jahre eine Arbeitskraft erhielt, der man keinen Lohn bezahlen musste.
Eigentlich waren solche Mindeststeigerungen, in denen Kinder feilgeboten wurden, mit dem Armengesetz von 1847 verboten worden. In Langnau und manch anderen Gemeinden des Kantons kümmerte man sich nicht darum und führte eine Bettlergemeinde nach altem Brauch durch.
Die Menge drängte sich neugierig um die Kiste, auf welche die Unglücklichen, einer nach dem andern, steigen mussten. Der Gemeindeschreiber pries sie an wie ein Viehhändler. Anstellig seien sie, folgsam und gewohnt zu arbeiten, schrie er. Die ersten drei, ein Junge und zwei Mädchen, belasteten die Fürsorgekasse kaum. Sie gingen fast gratis weg, denn man konnte davon ausgehen, dass sie die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Kleider mehr als kompensieren würden. Als die Reihe an Simon Diepoldswiler kam, standen sie mit gesenkten Köpfen vor dem Löwen und warteten auf ihre neuen Meister, die das Geschäft in der Gaststube bei einem Schoppen Rotwein feierten.
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