Werner Ryser - Kaukasische Sinfonie

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Werner Ryser erzählt die Geschichte von Simon, dem Emmentaler Auswanderer, der seinen Traum, in Grusinien Grossbauer zu werden, verwirklicht hat, und von Sophie, seiner Frau, die mit einem Fuss in der diesseitigen und mit dem andern in der jenseitigen Welt lebt. Sie haben drei Söhne, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Karl, den Arzt, der sich gegen die Ungerechtigkeiten der ständischen Gesellschaft im Zarenreich empört, Hannes, den Bauern, der einmal das elterliche Gut Eben-Ezer erben wird, sowie Jakob, den begnadeten Musiker, der mit seiner «Kaukasischen Sinfonie» seiner Seele ein Haus baut.
"Kaukasische Sinfonie" ist der dritte Band einer Familiensaga, die mit den Romanen «Geh, wilder Knochenmann!» und «Die grusinische Braut» begonnen hat. Der Roman spielt vor dem Hintergrund weltgeschichtlicher Ereignisse: des Grossen Kriegs von 1914/18 und der Russischen Revolution, die das Schicksal der Menschen im kleinen Land zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer prägen.

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Werner Ryser

Kaukasische Sinfonie

Roman

Für René Karlen Alle Rechte vorbehalten 2021 by Cosmos Verlag AG Muri bei - фото 1

Für René Karlen

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 by Cosmos Verlag AG, Muri bei Bern

Lektorat: René Karlen, Roland Schärer

Umschlag: Stephan Bundi, Boll

Satz und Druck: Merkur Druck AG, Langenthal

Einband: Schumacher AG, Schmitten

ISBN 978-3-305-00490-4

eISBN 978-3-305-00491-1

Das Bundesamt für Kultur unterstützt

den Cosmos Verlag mit einem Förderbeitrag

für die Jahre 2021–2024

www.cosmosverlag.ch

Inhalt

Sankt Petersburger Blutsonntag

Jakob

Alexander von Kutzschenbach

Ratischwili

Sophie

Baltische Suite

Katharinenfeld

Mayranoush

Erntedankfest 1917

Simon

Die Bolschewiki

Hannes

Sakartvelo

Eben-Ezer

Kaukasische Sinfonie

Das verheissene Land

Lipanali

Sankt Petersburger Blutsonntag

Er schlägt die neun Akkorde an, mit denen das Klavierkonzert Nr. 2 von Sergei Rachmaninow beginnt. Nur diese neun Akkorde. Immer wieder. Ein gewaltiges Crescendo. Die Ankündigung für etwas, das weit über ein musikalisches Ereignis hinausgeht. Er sitzt am Flügel auf der Bühne des Pavillons, der den Katharinenfeldern als Konzertsaal und Theater dient. Die Kerze, die er angezündet hat, beleuchtet kein Notenblatt, nur sein Gesicht. Während der ersten sechs Akkorde bleibt sein Oberkörper reglos. Nur der linke Arm bewegt sich, die rechte Hand schwebt bis zum nächsten Anschlag über den Tasten. Er hat die Augen geschlossen. Beim achten und neunten Akkord wirft er den Kopf ruckartig vor und zurück, so dass ihm sein rotes Haar in die Stirn fällt. Dann bricht er ab, legt beide Hände auf die Oberschenkel, konzentriert sich, beginnt von neuem. Er scheint mit seinem Spiel nicht zufrieden zu sein. Ich weiss nicht, weshalb. Mein Gehör ist nicht so geschult wie seines.

Am 8. Januar 1905 hat er Rachmaninows zweites Klavierkonzert im grossen Konzertsaal des Konservatoriums von Sankt Petersburg gespielt. Es gab nichts anderes als seine Musik. Sie war in mir, um mich. Nach dem dritten Satz, dessen Schluss seine ganze Kraft und Virtuosität erforderte, war es totenstill. Er bewegte sich nicht. Endlich brach tosender Applaus den Bann. Er stand auf und verbeugte sich. Und ich war unendlich stolz auf meinen jüngeren Bruder, Jakob Diepoldswiler.

Und jetzt, neun Jahre später, spielt er immer wieder die Eingangstakte dieses inzwischen berühmten Konzertes, als müsse er sich ihm ganz neu annähern. Nach dem zehnten oder zwölften Mal bricht er sein Spiel ab und wendet sich zu mir. «Wir werden es aufführen, Karl», sagt er, «am Erntedankfest im Oktober, hier in diesem Saal.» Er lächelt. «Du warst soeben Zeuge der ersten Probe.»

Ich bin fassungslos. «Das geht über unsere Fähigkeiten», wende ich ein. Ich spiele selbst Klarinette im Orchester und kenne unsere Grenzen. Rachmaninow liegt jenseits von ihnen. Definitiv.

«Wir werden üben!», erklärt er. Er macht sein Ich-will-es-und-so-wird-es-gemacht-Gesicht, und ich weiss: Er wird das Klavierkonzert Nr. 2 spielen, und wir werden ihn begleiten, so gut wir es eben können.

«Aber warum?», frage ich.

«Ich weiss nicht, was sich Sergei Wassiljewitsch gedacht hat, als er es komponierte. Aber für mich ist in diesem Stück mit seiner Melancholie und seinem Heroismus die Weite unserer Landschaft enthalten, das Leid der Bauern und Arbeiter und gleichzeitig die Auflehnung der gedemütigten und getretenen Menschen gegen ihr Schicksal. Es ist kein Zufall, dass ich meinen Entschluss heute gefasst habe.» Er schaut mich an. Und als ich schweige, fragt er vorwurfsvoll: «Welches Datum haben wir?»

«Den 22. Januar 1914, nach dem gregorianischen Kalender», sage ich, «und den 9. nach dem julianischen.»

Er nickt. «Seither sind genau neun Jahre vergangen. Erinnerst du dich nicht mehr?»

Erneut schlägt er seine neun Akkorde an. Diesmal aber spielt er weiter. Ohne Noten. Er kann das Konzert auswendig. Und während er spielt, ist es wieder da: das Gefühl, Teil seiner Musik zu sein. Ich verstehe, was er meinte, als er sagte, das ganze Land sei in diesem Stück enthalten. Ich sehe uns drei: Jakob, Hannes und mich, drei Brüder, die im Sommer auf ihren Kabardinern durch das unendliche Grasland am Fuss des Dschawachetischen Gebirges reiten. Gleichzeitig ist mir, als sehe ich die ausgemergelten Gestalten der Fabrikarbeiter vor mir, ihre bleichen, von Not und Elend gezeichneten Gesichter. Während meiner Zeit als Arzt in Sankt Petersburg behandelte ich in den Armenvierteln einmal in der Woche unentgeltlich Kranke. Die Verhältnisse schrien zum Himmel. Prostitution und Kriminalität gehörten zum Alltag. Es waren vom Land zugewanderte Menschen, die hofften, in der Stadt Brot und Arbeit zu finden. Sie hausten in Baracken oder überfüllten Wohnungen, in denen sich drei Schichtarbeiter ein einziges Bett teilten. Ihre Frauen und Kinder lagen neben dem Ofen auf dem nackten Boden. Alle waren schlecht ernährt und litten unter zahlreichen Krankheiten. Jeder vierte Säugling starb. Jenen, die als Kind nicht von Scharlach oder Diphtherie dahingerafft worden waren, bereiteten Schwindsucht, Pocken, Typhus- oder Choleraepidemien einen frühen Tod. Die Überlebenden, die im Durchschnitt nicht älter als fünfunddreissig wurden, litten unter Geschlechtskrankheiten und vor allem unter den Folgen der Trunksucht. Natürlich erinnere ich mich an jenen 9. Januar 1905, als sie in ihrer Hilflosigkeit gegen ihr Schicksal aufbegehrten.

Wie könnte ich den Petersburger Blutsonntag je vergessen? Mein Bruder hatte mit einem Konzert am Vorabend seine zweite Russlandtournee beendet. Heute würde er den Nachtzug nach Moskau nehmen und von dort zurück nach Tiflis reisen. Ich hatte ihn in diesen Tagen bei mir beherbergt. Schon während meines Medizinstudiums an der Universität von Sankt Petersburg hatte ich mit dem Geld, das ich von meiner Mutter erhielt, eine geräumige Wohnung in einem der oberen Stockwerke eines herrschaftlichen Hauses am südlichen Ufer der Mojka mieten können. Es befand sich zwischen dem Rathaus und dem Stroganow-Palais und gehörte der Witwe eines Generals, der erfolgreich gegen die Türken gekämpft hatte.

An diesem 9. Januar äusserte Jakob nach dem Frühstück den Wunsch, vor seiner Abreise einen ausgedehnten Spaziergang durch die Stadt zu machen. «Wie in alten Zeiten!» Er spielte auf jene drei Jahre an, in denen er am Konservatorium studiert und bei mir gewohnt hatte. Wir waren damals oft zur Strelka auf der Wassiljewskij-Insel spaziert. Dort, zwischen den beiden grossen Säulen, sassen wir dann auf einer Bank, schauten hinüber zur Peter-und-Paul-Festung und unterhielten uns über Gott und die Welt. Heute standen wir auf der Dreifaltigkeitsbrücke. Wir lehnten uns gegen das Geländer und sahen den vermummten Gestalten zu, die ins Eis der Newa Löcher hackten und fischten. Über ihnen flatterten Möwen, eine zänkische Schar, die sich um das Gekröse jener Fische stritt, die aus dem Strom gezogen und ausgenommen worden waren.

Kurz vor Mittag näherte sich uns von der Petersburger Insel her ein langer Menschenzug. Der Gesang frommer Lieder stieg in den kalten, blassblauen Winterhimmel. Kirchenfahnen flatterten im Wind, und manche trugen Ikonen und Porträts des Monarchen.

Jakob schaute mich an. «Eine Prozession?», fragte er. «Welchen ihrer Heiligen verehren sie denn heute?»

«Keinen Heiligen», sagte ich. «Sie sind unterwegs zum Winterpalast, wo sie Zar Nikolaj eine Bittschrift überreichen wollen.»

Im Dezember hatte die Direktion der Putilow-Metallwerke, die im Südwesten der Stadt Schiffe, Maschinen und Waffen produzierte, vier Arbeiter entlassen. Ihre Kollegen forderten vergeblich deren Wiedereinstellung. Darauf brachen in ganz Sankt Petersburg Unruhen aus. In rund vierhundert Betrieben streikten über hunderttausend Arbeiter.

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