Werner Ryser
Roman
Cosmos Verlag
Für Heidi und Ursula
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 by Cosmos Verlag AG, Muri bei Bern
Lektorat: René Karlen
Umschlag: Stephan Bundi, Boll
Satz und Druck: Merkur Druck AG, Langenthal
Einband: Schumacher AG, Schmitten
ISBN 978-3-305-00476-8
eISBN 978-3-305-00496-6
Das Bundesamt für Kultur unterstützt
den Cosmos Verlag mit einem Strukturbeitrag
für die Jahre 2016–2020
www.cosmosverlag.ch
Die Leibeigenen 1775–1796 Die Leibeigenen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Die Patrioten 1796–1798
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Franzosenzeit 1798–1813
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Herrenjahre 1813–1816
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Freiheit und Gerechtigkeit? 1816–1852
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nachwort
Werner Ryser: Das Ketzerweib Roman. 224 Seiten. Cosmos Verlag
Die Leibeigenen
Am Sonntag, dem 16. Juli 1775, wollte Mathis Jacob, dessen Vater Pächter auf dem Sennhof Sankt Wendelin am Oberen Hauenstein war, mit der achtzehnjährigen Barbara Strub vor den Traualtar treten. Die Zeit drängte, denn die Braut war bereits im vierten Monat schwanger, und ihr Zustand würde sich nicht mehr lange verbergen lassen. Was noch fehlte, war der Eheschein, der in der Kanzlei des Schlosses ausgestellt wurde und für den eine Gebühr von zwei Pfund zu entrichten war. Gleichzeitig wurden Uniform und Waffen inspiziert, welche sich die Wehrmänner der Landmiliz, der Mathis wie jeder Baselbieter angehörte, auf eigene Kosten anschaffen mussten. Mathis hatte sein Steinschlossgewehr und das Bajonett gereinigt, und jetzt, vier Tage vor der Hochzeit, war er in der blauroten Montur, die seine Mutter am Vorabend ausgebürstet hatte, unterwegs Richtung Schlossberg.
Seit bald sechs Jahrhunderten beherrschte die hochmittelalterliche Veste, die wie ein Adlerhorst auf einer zerklüfteten Fluh über dem Städtchen Waldenburg thronte, die Strasse über den Oberen Hauenstein. Sie diente seit bald vierhundert Jahren den Gnädigen Herren der Stadt Basel als Sitz für die Landvögte, die in ihrem Auftrag über ihre leibeigenen Baselbieter Untertanen regierten. Die Anlage war durch eine Ringmauer und steil abfallende Felswände geschützt und bestand aus einer Hauptburg, einem Bergfried, Wohngebäuden sowie dem alten und dem neuen Schloss, einem mehrstöckigen Palas.
Gegen neun Uhr stieg Mathis die schier unendlichen Treppenstufen hinauf und durchquerte den Zwinger der Vorburg. Eine Wache, die am inneren Tor stand, wies ihm den Weg in den Empfangsraum, wo ihm ein zweiter Soldat bedeutete, Platz zu nehmen. Rund ein Dutzend Bauern und Handwerker warteten bereits. Sie waren entweder vorgeladen worden oder hatten, wie er, ein Anliegen an die Obrigkeit.
Die städtischen Landvögte in den sieben Ämtern des Kantons überwachten die von ihnen als Gemeindevorsteher ernannten Meier oder Untervögte und die dörflichen Niedergerichte. Darüber hinaus zogen sie die Steuern ein und machten, zusammen mit den Pfarrherren, die Erlasse des städtischen Rats bekannt und kontrollierten deren Einhaltung. Neben ihrem Gehalt und den Einkünften aus dem von einem Pächter geführten Bauerngut, dem Schlosshof, standen ihnen die Gebühren für die von ihrer Kanzlei ausgestellten Urkunden zu. Ausserdem erhielten sie einen Anteil der von ihnen verhängten Bussen.
Während der Schlossschreiber, Koni Schäublin, die Vorgeladenen, einen nach dem anderen, in die Kanzlei rief, unterhielten sich die Wartenden. Man erzählte sich, weshalb man hier war. Einer war verklagt worden, weil er nach seiner Hochzeit den Gästen zum Tanz hatte aufspielen lassen, ein Vergnügen, das die sittenstrengen Gnädigen Herren partout nicht dulden mochten. Zumindest nicht unter den Landleuten. Ein anderer erwartete eine Geldstrafe, weil er seine Verwandten im fricktalischen Rheinfelden besucht, also verbotenerweise fremdes, vorderösterreichisches Territorium betreten hatte. Die Rede kam auf die Willkür der Landvögte, auf die Gier, mit der sie Bussen und Gebühren eintrieben, um so ihre Amtszeit, die sie dem Losglück verdankten, möglichst ertragreich zu gestalten. Franz Brodbeck, der zurzeit das Amt Waldenburg verwaltete, hatte den Ruf, ein launischer Herr zu sein, der seine Entscheidungen ganz nach eigenem Gusto traf.
Staunend folgte Mathis Jacob der Unterhaltung. Bis heute hatte sich der zweiundzwanzigjährige Jungbauer wenig Gedanken über Fragen von Macht und Herrschaft gemacht. Wenn es im Schloss etwas zu regeln gegeben hatte, war das von seinem Vater Johannes erledigt worden. Aber die Kräfte des Alten liessen nach, und Mathis würde wohl bald den Hof und damit auch den Verkehr mit der Landvogtei übernehmen müssen.
Gegen Mittag trat der etwa dreissigjährige Schreiber in die Tür der Kanzlei und sagte, der Herr Landvogt habe die Geschäfte mit den Vorgeladenen erledigt. Jetzt sei er ausgeritten. Jene, die ein Anliegen an ihn hätten, müssten sich bis zu seiner Rückkehr gedulden.
Mathis wurde unruhig. Er hatte damit gerechnet, zum Mittagessen zu Hause zu sein. Er fragte einen älteren Mann, der ebenfalls etwas vom Landvogt wollte, wie lange es wohl dauern werde, bis der Gnädige Herr zurück sei.
Der andere zuckte mit den Schultern: «Wenn wir Glück haben, vielleicht drei Stunden. Es kann aber auch sein, dass wir morgen früh wiederkommen müssen.»
«Aber ich brauche den Eheschein! Er kann uns doch nicht einfach hängen lassen!»
«Er kann», sagte der Mann. «Glaub mir, er kann.»
Die Gespräche verstummten. Die meisten dösten auf den harten Bänken an der Wand. Mathis wanderte unruhig hin und her. Er hatte Hunger. Die Zeit zog sich in die Länge. Man hörte den Glockenschlag der Schlossuhr. Er verkündete die erste, die zweite und dann die dritte Stunde des Nachmittags.
Um vier Uhr wurde die Tür zur Kanzlei wieder geöffnet, und der Erste der Wartenden durfte sein Anliegen vortragen. Er schien seine Sache schlecht zu vertreten. Bis in den Empfangsraum hörte man die Stimme des Landvogts, der den Bittsteller lautstark massregelte. Mit betretenem Gesicht kam der Mann heraus. Wortlos verliess er den Ort seiner Niederlage. Auch den beiden Nächsten, die vorgelassen wurden, ging es nicht besser. Der Lärm, der aus der Kanzlei drang, machte deutlich, dass sich die Laune des Gnädigen Herrn zusehends verschlechterte.
Dann war Mathis an der Reihe. Er trat über die Schwelle. Franz Brodbeck lag halb in seinem grossen, geschnitzten Sessel, die Hände über dem Bauch gefaltet. Koni Schäublin beugte sich hinter seinem kleinen Pult über irgendwelche Akten.
«Nimm Stellung an!», bellte der Landvogt. Und während Mathis Jacob steif und starr dastand, sein Gewehr vorschriftsgemäss mit der Linken am Lauf umklammerte und gegen Hüfte und Ferse presste, erhob sich der Herr, umkreiste ihn lauernd und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Mathis kam sich vor wie ein Stück Vieh, das auf dem Markt vom Händler begutachtet wurde.
«Wenigstens einer, der nicht aussieht wie ein vollgeschissener Strumpf», knurrte Brodbeck schliesslich. «Rühr dich! Was willst du?»
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