Rechtsprechung: BGHSt 11, 111– Myom (Ärztlicher Heileingriff als tatbestandliche Körperverletzung); BGHSt 16, 309– Famulus (Einwilligung in Heilbehandlung durch Nichtarzt); BGHSt 35, 246– Operationserweiterung (mutmaßliche Einwilligung bei ärztlichen Heileingriffen); BGHSt 36, 1– AIDS (Infizieren mit HI-Virus als Körperverletzung); BGHSt 43, 346– Röntgen (Tatbestand der Gesundheitsschädigung); BGHSt 44, 196– Überfall (Verhältnis von versuchtem Totschlag und vollendeter Körperverletzung); BGHSt 48, 34– Gubener Verfolgungsfall (psychische Beeinträchtigungen); BGHSt 49, 166– Sadomaso (Sittenwidrigkeit der Einwilligung); BGHSt 58, 140– Schlägerei (Sittenwidrigkeit bei fehlender Lebensgefahr); BGHSt 64, 69– Morphin (Mutmaßliche Einwilligung bei Morphingabe an unheilbar Kranken); OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 325– Autosurfen (Abgrenzung von Selbst- und Fremdgefährdung); BayObLG NStZ 1999, 458– Aufnahmeprüfung (Sittenwidrigkeit der Einwilligung); OLG Düsseldorf NJW 2002, 2118– Telefonanrufe (Abgrenzung von physischen und psychischen Beeinträchtigungen); BGH NStZ-RR 2004, 16– Bandscheiben (hypothetische Einwilligung); BGH NStZ 2004, 442– Bohrer (hypothetische Einwilligung).
I.Geschütztes Rechtsgut und Systematik
281Geschütztes Rechtsgut der Körperverletzungsdelikte ist die körperliche Unversehrtheit. Wie bereits aus der Regelung des § 228 folgt, handelt es sich hierbei um ein disponibles Rechtsgut. Grundtatbestand ist § 223, der zwei Varianten – die körperliche Misshandlung (Var. 1) und die Gesundheitsschädigung (Var. 2) – beinhaltet. Qualifikationstatbestände hierzu sind in § 224 (gefährliche Körperverletzung), § 226 Abs. 2 (schwere Körperverletzung), § 226a (Verstümmelung weiblicher Genitalien) und § 340 (Körperverletzung im Amt) enthalten. Erfolgsqualifikationen i. S. d. § 18 finden sich in § 226 Abs. 1 (schwere Körperverletzung) und § 227 (Körperverletzung mit Todesfolge). Die fahrlässige Körperverletzung ist in § 229 normiert. Selbstständige Abwandlungen sind in § 225 (Misshandlung von Schutzbefohlenen) und § 231 (Beteiligung an einer Schlägerei) enthalten.
282In Fällen des § 223 und § 229 bedarf es gem. § 230 eines Strafantrags, es sei denn, die Strafverfolgungsbehörde hält wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten.
Hinweis: Nach Nr. 234 RiStBV (Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren) ist ein besonderes öffentliches Interesse namentlich dann anzunehmen, wenn der Täter einschlägig vorbestraft ist, roh oder besonders leichtfertig gehandelt hat, durch die Tat eine erhebliche Verletzung verursacht wurde oder dem Opfer wegen seiner persönlichen Beziehung zum Täter nicht zugemutet werden kann, Strafantrag zu stellen, und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist. Andererseits kann auch der Umstand beachtlich sein, dass der Verletzte auf Bestrafung keinen Wert legt.
283Strafprozessual ist ferner zu berücksichtigen, dass Taten nach § 223 und § 229 vom Verletzten im Wege der Privatklage nach § 374 Abs. 1 Nr. 4 StPO verfolgt werden können.
2841. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Andere Person
bb) Körperliche Misshandlung (Var. 1) oder Gesundheitsschädigung (Var. 2)
b) Subjektiver Tatbestand
2. Rechtswidrigkeit
3. Schuld
4. Strafantrag, § 230
III.Tatbestand
1.Objektiver Tatbestand
285Erfasst werden die körperliche Misshandlung und die Gesundheitsschädigung.
286 a)Tatobjekt muss schon ausweislich des Wortlauts – nicht anders als bei den Tötungsdelikten – eine andere Personsein.
287 aa)Ebenso wie im Bereich der §§ 212, 222 werden pränatale Einwirkungenauf die Leibesfrucht nicht erfasst 766. Da auf den Zeitpunkt der Einwirkung auf das Tatobjekt abzustellen ist, kann eine Schädigung der Leibesfrucht auch dann nicht vom Tatbestand erfasst werden, wenn – wie in den Conterganfällen – später ein Kind mit Gesundheitsschäden geboren wird.
Bsp.:Arzt T verschreibt aufgrund einer Sorgfaltspflichtverletzung der Schwangeren S Medikamente, die dazu führen, dass ihr Kind O mit Gesundheitsschäden geboren wird. – T verwirklicht nicht den Tatbestand des § 223, da Tatobjekt nicht die Leibesfrucht, sondern nur ein anderer Mensch sein kann. Da die Schädigung der Leibesfrucht auch nicht von § 218 erfasst wird, gelangt man zu dem wenig befriedigenden Ergebnis, dass fahrlässige pränatale Einwirkungen straflos bleiben 767.
288Wird durch die pränatale Einwirkung der Tod der Leibesfrucht bewirkt, so entfaltet § 218 hinsichtlich einer etwaigen damit unvermeidlich verbundenen Körperverletzung der Schwangeren Sperrwirkung 768.
289 bb)Die Selbstverletzung des Opfers ist straflos 769. Daraus folgt, dass auch die Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstverletzung des Opfersnicht strafbar ist. Hier können sich – nicht anders als bei den Tötungsdelikten – schwierige Abgrenzungsfragen zur Fremdverletzung stellen 770. In Abweichung zu den bei §§ 212 ff. geschilderten Grundsätzen ist jedoch zu beachten, dass bei den Körperverletzungsdelikten grundsätzlich eine rechtfertigende Einwilligung des Opfers möglich ist.
290 b)§ 223 Abs. 1 enthält zwei tatbestandliche Varianten, zwischen denen sorgfältig unterschieden werden muss:
291 aa)Unter einer körperlichen Misshandlung i. S. d. § 223 Abs. 1 Var. 1ist eine üble und unangemessene Behandlung zu verstehen, die das körperliche Wohlbefinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigt 771. Hierunter können sowohl Substanzverletzungenals auch Funktionsbeeinträchtigungenfallen.
Bspe.:Verlust von Körperteilen, z. B. eines Zahns 772(Substanzverletzung); Beeinträchtigung der Sehkraft (Funktionsbeeinträchtigung); Abschneiden der Haare 773.
292Daneben werden aber auch sonstige nicht unerhebliche Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens erfasst.
Bspe.:Faustschlag 774, Ohrfeige, Fußtritt 775, Festhalten im „Schwitzkasten“ 776, Beschmieren des Körpers des Opfers mit Farbe, wenn sich diese nicht ohne weiteres entfernen lässt 777, Übergießen der Haare und Oberkleidung mit Brennspiritus 778, langes Fesseln oder kräftezehrende Übungen wie Liegestütze oder das Halten von Baumstämmen 779.
293Das Empfinden von Schmerz ist dabei nicht erforderlich 780. Die Beeinträchtigung darf jedoch nicht unerheblich sein, so dass Bagatellfälle nicht den objektiven Tatbestand verwirklichen.
Bspe. (Bagatellfälle):Leichter Klaps 781, leichter Stoß vor die Brust 782, kleiner Kratzer, leichte Hautrötung 783, geringer Bluterguss eines Schülers bei Festhalten am Arm durch den Lehrer 784.
294Auf der Grenze zu den Bagatellfällen liegt etwa das Bespucken des Opfers 785. Entscheidend für die Lösung dieser Frage ist, ob man mit der h. M. die Beeinträchtigung des physischen Wohlbefindensverlangt 786oder ob man eine Beeinträchtigung des seelischen bzw. psychischen Wohlbefindensgenügen lässt. Mit letztgenannter Ansicht kann man den Tatbestand damit begründen, dass das Wohlbefinden des Opfers durch Hervorrufen von Ekel nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird. Die h. M. verneint hingegen eine Körperverletzung, weil sich die physischen Folgen durch Abwischen leicht beseitigen lassen; es verbleibt dann lediglich eine tätliche Beleidigung gem. § 185 Var. 2. Auch das Hervorrufen von Angst, Schrecken, Wut, Müdigkeit usw. genügt nach h. M. nicht 787, soweit nicht im Einzelfall das physische Wohlbefinden als Folge beeinträchtigt wird 788. Erforderlich ist, dass der „Körper im weitesten Sinne in einen pathologischen, somatisch objektivierbaren Zustand“ versetzt wird 789. Beeinträchtigungen des rein psychischen Wohlbefindens können nur unter den Voraussetzungen des § 225 Abs. 1 erfasst werden, wenn der Täter also das Opfer z. B. „quält“ 790.
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