Rechtsprechung: BVerfGE 39, 1– Schwangerschaftsabbruch (Verfassungswidrigkeit der Fristenlösung); BVerfGE 88, 203– Schwangerschaftsabbruch (Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Fristenlösung); BGHSt 10, 291– Piepslaute (Abgrenzung von § 212 und § 218); BGHSt 11, 15– Tötung einer Schwangeren (Tötung einer Schwangeren und gleichzeitige Abtreibung); BGHSt 13, 21– Eimer (Verhältnis von § 212 und § 218) BGHSt 28, 11– Seifenlösung (Konkurrenzen bei Tod der Schwangeren nach Abtreibung); BGHSt 31, 348– Vorwehen (Beginn der Geburt).
I.Geschütztes Rechtsgut und Systematik
263 Geschütztes Rechtsgutdes § 218 ist primär das ungeborene Leben. Als eigenständiges höchstpersönliches Rechtsgut genießt es Verfassungsrang i. S. d. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und ist gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren grundsätzlich vorrangig 726. Ob daneben (sekundär) die Gesundheit der Schwangeren geschützt wird, ist umstritten 727. Dafür wird vor allem angeführt, dass die Vorschriften auch vor Schwangerschaftsabbrüchen durch medizinische Laien und damit zusammenhängenden Gesundheitsgefahren für die Frau schützen sollen. Gegenüber dem Tatbestand des Totschlags nach § 212 handelt es sich bei § 218 um ein delictum sui generis. Die wesentlichen Abgrenzungsfragen wurden schon bei § 212 behandelt 728. Die mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz aus dem Jahre 1995 geänderten §§ 218 ff. sind das Ergebnis langer Reformbemühungen, in die die Vorgaben des BVerfG einbezogen wurden 729.
2641. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tatobjekt: Leibesfrucht
bb) Abbrechen der Schwangerschaft
b) Subjektiver Tatbestand
c) Kein Tatbestandsausschluss nach § 218a Abs. 1
2. Rechtswidrigkeit
a) Medizinisch-soziale Indikation, § 218a Abs. 2
b) Kriminologische Indikation, § 218a Abs. 3
3. Schuld
4. Persönlicher Strafausschließungsgrund für die Schwangere, § 218a Abs. 4 Satz 1
5. Absehen von Strafe, § 218a Abs. 4 Satz 2
6. Strafzumessungsregel für besonders schwere Fälle mit Regelbeispielen, § 218 Abs. 2
a) Nr. 1: Handeln gegen den Willen der Schwangeren
b) Nr. 2: Leichtfertige Verursachung der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren
265Das Grunddelikt des Schwangerschaftsabbruchs ist in § 218 Abs. 1 Satz 1 geregelt. Die Vorschrift umfasst sowohl den Schwangerschaftsabbruch in Form des Fremdabbruchs durch Dritte als auch den Selbstabbruch durch die Schwangere (mit geringerem Strafrahmen, § 218 Abs. 3).
266Voraussetzung ist der Abbruch einer Schwangerschaft.
267 a)Darunter ist eine Handlung zu verstehen, die zur Beendigung der Schwangerschaft mit dem Ziel des Absterbens der Leibesfrucht vorgenommen wird 730. Der Strafrechtsschutz beginnt dabei mit der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter (Nidation, vgl. § 218 Abs. 1 Satz 2). Sämtliche Möglichkeiten der Empfängnisverhütung sowie die Verhinderung der Nidation („Pille danach“ 731) werden vom Tatbestand des § 218 nicht erfasst. Bei Tathandlungen nach Beginn der Geburt, d. h. nach dem Einsetzen der Eröffnungswehen, finden die Tötungsdelikte Anwendung 732.
268 b)Die Tathandlung kann dabei sowohl in der Herbeiführung des vorzeitigen Abgangs einer noch nicht selbstständig lebensfähigen Leibesfrucht 733als auch in der Tötung der Schwangeren selbst liegen, wenn damit die Abtötung des ungeborenen Lebens verbunden ist 734. Bleibt das Abtöten der Leibesfrucht aus, liegt keine Vollendung vor 735; der Versuch ist gem. § 218 Abs. 4 Satz 2 für die Schwangere nicht strafbar. Wird lediglich der Eintritt der Geburt mit wehenfördernden Mitteln beschleunigt oder ein ärztlicher Eingriff mit dem Ziel einer vorgezogenen Geburt eines lebensfähigen Kindes vorgenommen, liegt keine Abbruchhandlung i. S. d. § 218 Abs. 1 Satz 1 vor. Dies gilt selbst dann, wenn das Kind tot oder nicht lebensfähig zur Welt kommt 736.
269§ 218 erfasst nur den vorsätzlichen Schwangerschaftsabbruch. Fahrlässige Schädigungen der Leibesfrucht sind nicht tatbestandsmäßig; auch Tötungs- und Körperverletzungsdelikte scheiden aus, weil für die Bestimmung des Tatobjekts der Zeitpunkt der Einwirkungshandlung maßgeblich ist 737.
3.Tatbestandsausschluss nach § 218a Abs. 1
270Der Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs ist unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1, die auf den Vorgaben des BVerfG beruhen 738, für alle Tatbeteiligten nicht verwirklicht 739. Erforderlich ist, dass die Schwangere den Abbruch ihrer Schwangerschaft verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung gem. § 219 Abs. 2 Satz 2nachweist, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen (Nr. 1), der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird (Nr. 2) und seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind (Nr. 3) 740.
271Über das Rechtsgut des ungeborenen Lebens kann die Mutter nicht disponieren. Sie kann deshalb keine rechtfertigende Einwilligung in die Abtötung der Leibesfrucht erteilen. § 218a Abs. 2 und Abs. 3 enthalten spezielle Rechtfertigungsgründe, die § 34 verdrängen 741.
1.Medizinisch-soziale Indikation nach § 218a Abs. 2
272Der mit der Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist demnach nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Auf diesen Rechtfertigungsgrund kann sich die Schwangere zeitlich unbeschränkt berufen 742.
2.Kriminologische Indikation nach § 218a Abs. 3
273Danach gelten die Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 bei einem Schwangerschaftsabbruch, der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommen wird, auch als erfüllt, wenn nach ärztlicher Erkenntnis an der Schwangeren eine rechtswidrige Tat nach den §§ 176–178 des Strafgesetzbuches begangen worden ist, dringende Gründe für die Annahme sprechen, dass die Schwangerschaft auf der Tat beruht, und seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind. Im Gegensatz zur medizinisch-sozialen Indikation ist die kriminologische Indikation somit zeitlich begrenzt.
V.Besondere Privilegierungen für die Schwangere
274Die Schwangere wird aufgrund der persönlichen Lage, in der sie sich befindet, mehrfach privilegiert: So ist zunächst der Strafrahmenfür den sog. Selbstabbruch nach § 218 Abs. 3herabgesetzt; die Vorschrift enthält ihrer Rechtsnatur nach einen persönlichen Strafmilderungsgrund, für den § 28 Abs. 2 gilt 743. Ferner gilt nach dem systematischen Standort und dem Wortlaut des § 218 Abs. 2der strengere Strafrahmen für besonders schwere Fällenicht für die Schwangere 744. Unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 4 Satz 1ist die Schwangere ganz straflos; die Vorschrift regelt einen persönlichen Strafausschließungsgrundbei einem ärztlich durchgeführten Schwangerschaftsabbruch nach vorheriger Beratung bis zur 22. Woche seit der Empfängnis (Verlängerung der Fristenregelung des § 218a Abs. 1), auch wenn die Voraussetzungen einer Indikation nach § 218a Abs. 2 oder 3 nicht vorliegen. Die Strafbarkeit anderer Beteiligter, insb. diejenige des Arztes, bleibt gem. § 28 Abs. 2 unberührt 745. § 218a Abs. 4 Satz 2ermöglicht ein Absehen von Strafe, wenn sich die Schwangere zur Zeit des Eingriffs in einer besonderen Notlage befunden hat. Schließlich ist der Versuch des Schwangerschaftsabbruchs(§ 218 Abs. 4 Satz 1) für die Schwangere nach § 218 Abs. 4 Satz 2 nicht strafbar.
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