Übungsfälle: Baier , Tod nach Aussetzung, JA 2000, 300; Frisch/Murmann , Ein folgenschwerer Denkzettel, JuS 1999, 1196; Gössel , Fall 7: Verbrechenslohn und Liebeslohn, S. 124; Gropp/Küpper/Mitsch , Fall 8: Neptun geht baden, S. 149.
Rechtsprechung: BGHSt 4, 113– KZ-Fall (Ausweisung schwerkranker Häftlinge aus dem Krankenrevier); BGHSt 21, 44– Mutter (Verhungernlassen von Kindern); BGHSt 26, 35– Gastwirt (Obhutspflichten eines Gastwirtes); BGHSt 52, 153– Misshandlung (Steigerung der hilflosen Lage); BGHSt 57, 28– Balkonsturz (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 als echtes Unterlassungsdelikt); BGH NStZ 2008, 395– Polizei (Begriff der hilflosen Lage).
I.Geschütztes Rechtsgut und Systematik
234Obwohl die Vorschrift des § 221 ihre systematische Stellung bei den Straftaten gegen das Leben hat, ist geschütztes Rechtsgut nicht nur das Leben, sondern ausweislich des Wortlauts „schwere Gesundheitsschädigung“ auch die körperliche Unversehrtheit. § 221 Abs. 1 enthält den Grundtatbestand. Es handelt sich hierbei um ein konkretes Gefährdungsdelikt 677. Nr. 1 enthält keine Beschränkung des Täterkreises, wohingegen Nr. 2 ein Sonderdelikt enthält. Die Worte „in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist“ bringen dort zum Ausdruck, dass Täter des Delikts nur ein Garant i. S. d. § 13 sein kann 678. Strafschärfungen sind in Abs. 2 und 3 enthalten. § 221 Abs. 2 Nr. 1 normiert einen echten Qualifikationstatbestand, während § 221 Abs. 2 Nr. 2 und § 221 Abs. 3 Erfolgsqualifikationen enthalten.
Klausurhinweis:§ 221 Abs. 1 Nr. 2 ist im Zusammenhang mit Unterlassungsdelikten von großer Bedeutung. In solchen Fällen ist folgende Prüfungsreihenfolge zu empfehlen: Zunächst sollte das unechte Unterlassungsdelikt, z. B. eine Strafbarkeit nach §§ 212, 13 geprüft werden. Danach ist dann auf die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 einzugehen, wobei auf etwaige Ausführungen zur Garantenstellung bei §§ 212, 13 verwiesen werden kann. Schließlich sollte in einem letzten Schritt das echte Unterlassungsdelikt des § 323c angesprochen werden.
2351. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tatbestandsalternativen
(1) Nr. 1: Versetzen eines Menschen in hilflose Lage
(2) Nr. 2: Imstichlassen eines Menschen in hilfloser Lage trotz Beistandspflicht i. S.e. Garantenstellung
bb) Dadurch (spezifischer Gefahrzusammenhang) Eintritt der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung
b) Subjektiver Tatbestand
2. Rechtswidrigkeit
3. Schuld
4. Strafschärfungen
a) Qualifikation, § 221 Abs. 2 Nr. 1: Begehung der Tat gegen sein Kind oder eine Person, die zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist und Vorsatz diesbezüglich
b) Erfolgsqualifikation, § 221 Abs. 2 Nr. 2: Verursachung einer schweren Gesundheitsschädigung und mindestens Fahrlässigkeit i. S. d. § 18 diesbezüglich
c) Erfolgsqualifikation, § 221 Abs. 3: Verursachung des Todes und mindestens Fahrlässigkeit i. S. d. § 18 diesbezüglich
Beachte:Abweichend von der Fallprüfung werden Qualifikationen und Erfolgsqualifikationen jeweils als 4. Gliederungspunkt aufgeführt, um die Übersichtlichkeit der Aufbauschemata zu wahren. Zum klausurmäßigen Aufbau von Qualifikationen vgl. exemplarisch die Darstellung bei § 224 679, zu Erfolgsqualifikationen die Ausführungen zu § 227 680.
III.Grundtatbestand des § 221 Abs. 1
1.Tatbestand des § 221 Abs. 1 Nr. 1
236Den Tatbestand verwirklicht jeder, der einen anderen Menschen in eine hilflose Lage versetzt und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt.
237 a)Der Täter muss das Opfer in eine hilflose Lage versetzen. Eine hilflose Lageist nach h. M. gegeben, wenn das Opfer bei zunächst zumindest abstrakter Gefahr außerstande ist, sich aus eigener Kraft oder mit Hilfe Dritter vor drohenden Lebens- oder schweren Gesundheitsgefahren zu schützen 681. Es sind also auch Fälle zu erfassen, in denen das Opfer zum Zeitpunkt der Handlung selbst schon hilflos ist, jedoch hilfsfähige und hilfswillige schutzbereite Dritte noch Beistand leisten 682.
Bsp.:Der verletzte O wird vom Retter R betreut. T kommt hinzu und schlägt den R bewusstlos. Nur deshalb gerät O in konkrete Lebensgefahr. – T macht sich nach § 221 Abs. 1 Nr. 1 strafbar.
238In den Fällen des § 221 Abs. 1 Nr. 2 macht sich auch der schutzbereite Dritte als Garant strafbar, wenn er den Beistand aufgibt und das Opfer in hilfloser Lage verlässt, etwa die Krankenschwester den Patienten nicht mehr betreut 683.
239 b)Typische Fälle der Nr. 1 sehen im Gegensatz zur Nr. 2 meist so aus, dass der Täter die hilflose Lage erst durch die Tat, d. h. das Versetzen, herbeiführt. Erfasst werden darüber hinaus aber auch Sachverhalte, in denen das bereits hilflose Opfer in eine neue, andere hilflose Lage versetzt wird 684. Dann muss bei der weiteren Prüfung allerdings beachtet werden, dass die konkrete Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung gerade auf dem Versetzen in die neue hilflose Lage beruht bzw. eine bereits bestehende Gefahr dadurch nicht nur unwesentlich gesteigert wird 685.
Bsp.: 686T findet den schwer betrunkenen O in einer eiskalten Nacht auf der Straße. Um O eine Lektion zu erteilen, verbringt er ihn mit seinem Wagen in einen Wald und setzt ihn dort aus; nur durch Zufall wird er dort von einem Jäger gefunden und gerettet. – O befand sich aufgrund seiner Trunkenheit zwar bereits in einer hilflosen Lage. T führte jedoch eine neue, andere hilflose Lage herbei, wodurch O einer gesteigerten drohenden Lebens- bzw. schweren Gesundheitsgefahr ausgesetzt wurde. T hat sich daher gem. § 221 Abs. 1 Nr. 1 strafbar gemacht.
240 c)Das tatbestandsmäßige Versetzen wird häufig in einem räumlichen Verbringen des Opfersan einen anderen Aufenthaltsort bestehen. Nach h. M. ist jedoch eine Ortsveränderung nicht erforderlich 687. Daher können auch alle anderen aktiven Einwirkungen auf das Opfer – wie Täuschung, Drohung oder Gewalt –, die eine hilflose Lage herbeiführen, tatbestandsmäßig sein 688.
Bspe:T schlägt O bewusstlos, fesselt ihn oder flößt ihm Alkohol ein.
241 d)Obwohl das Versetzen in eine hilflose Lage grundsätzlich durch aktive Handlungen geschieht, kann § 221 Abs. 1 Nr. 1 auch durch Unterlassenverwirklicht werden. Dies ist der Fall, wenn ein Garant nicht verhindert, dass das Opfer in eine hilflose Lage gerät und dadurch der Gefahrerfolg eintritt 689.
Bsp. (1):Der Vater verhindert nicht, dass ein Dritter sein Kind in eine hilflose Lage versetzt.
Bsp. (2):Der Garant verhindert nicht, dass das Opfer sich betrinkt oder – weil es verwirrt ist – sich an einen abgelegenen Ort begibt (sog. Selbstaussetzung 690).
2.Tatbestand des § 221 Abs. 1 Nr. 2
242Im Gegensatz zu Nr. 1 handelt es sich um ein Sonderdelikt. Täter kann nur sein, wer eine Garantenstellungbesitzt, die allgemeine Hilfspflicht aus § 323c genügt nicht 691. Nach Ansicht des BGH ist Nr. 2 nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ein Unterlassungsdelikt, weil nicht das Entfernen usw. entscheidend ist, sondern das Unterlassen der Hilfe 692.
Klausurhinweis:Soweit zuvor bei der Prüfung eines unechten Unterlassungsdelikts bereits eine Garantenstellung verneint wurde, kann § 221 Abs. 1 Nr. 2 durch Verweis auf diese Ausführungen „zügig“ abgelehnt werden.
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