Jetzt hatte sie unglaublichen Durst. Nein, eher Appetit auf etwas, das nicht nur Sprudelwasser oder Apfelsaft war. Sie hätte jetzt gerne ein Glas Wein getrunken. Einen leichten Weißwein, der schadete auch tagsüber nicht. Ein, zwei Gläschen nur.
Sie schloss die Tür auf und schob den Wagen hinein. Die Schwelle war ebenerdig. Das führte zwar bei starkem Regen schon mal dazu, dass ein bisschen Wasser in den Flur sickerte, aber ansonsten war es bequem.
Sie wollte gerade die Haustür hinter sich schließen, als sie in ihrer Bewegung innehielt. Im großen Spiegel am Ende des Flurs sah sie gegen das hinter ihr einfallende Licht ihren eigenen Schattenriss. Meine Güte, es wurde nicht weniger. Weder an der Hüfte noch an den Oberschenkeln. Nach dem Ende der Schwangerschaft hatte sie gehofft, sie würde wieder abnehmen, aber seit fast drei Jahren änderte sich überhaupt nichts. Zwei Kilo runter, drei rauf, drei runter, zwei rauf … Sie zwang sich, nicht mehr hinzusehen, sondern betrachtete das kleine Kind vor sich im Wagen. Im Schatten des Flurs konnte sie das Gesicht nur erahnen.
Jonte schlief so schön. Es wäre nicht schlimm, wenn sie rasch die paar Meter zurück zur Tankstelle lief und sich ein Fläschchen Wein holte. Dafür musste sie nicht mal das Auto nehmen. Zu Fuß war es schneller, sie konnte den Pfad hinter dem Haus nehmen. An der Tankstelle gab es immer was zu trinken. Der Horst kannte das. Er machte ihr immer einen Sonderpreis und war froh, ihr damit eine kleine Freude bereiten zu können.
Zögernd hielt sie den Türgriff in der Hand.
Ja, nur mal schnell rüber zur Tankstelle, und in fünf Minuten würde sie wieder zurück sein.
Wenn Jogi dann später die Quittung vom REWE sah, würde er darauf keinen Wein finden. Nicht, dass er etwas dagegen hatte, dass sie ab und zu ein Schlückchen trank, das nicht, aber sie wollte ihn nicht unnötig nervös machen. Es war nur Wein, kein Drama. Nur ein Sommerwein. Ja, darauf hatte sie jetzt Lust.
Ketchen bückte sich zum Backofen hinunter und begutachtete den Hefekuchen, der das ganze Backblech füllte und langsam der Vollendung entgegenbuk. Die gewellte Oberfläche wurde schon goldgelb. Ein Blick zur Küchenuhr – noch etwa vier, fünf Minuten, dann ein bisschen verquirltes Eigelb draufpinseln, noch ein paar Minuten tüchtig Oberhitze geben, und die Appeltaat wäre fertig.
Die elektronische Uhr am Backofen war völlig falsch eingestellt. Sie konnte mit den modernen Geräten nicht gut umgehen. Außer mit ihrem Computer, mit dem kannte sie sich aus.
Aber hier am Ofen, da wusste sie nicht mal, wie sich die grünen Leuchtziffern richtig einstellen ließen. Überhaupt war ihr früher mit dem alten Küchenofen immer alles besser gelungen.
Elvira, die Frau ihres Bruders, hatte alles modernisiert. Beleuchtung, Fernseher, Waschmaschine … überhaupt alle elektrischen Geräte im ganzen Haus. Das Alte war ihr alles nicht mehr gut genug gewesen. Und Geld genug war ja da. Also hatten sie alle altgedienten Sachen zügig rausgeschmissen. Da war es egal gewesen, dass sie doch eigentlich noch gut in Schuss waren und immer noch tadellos ihre Dienste versahen. Nein, für Elvira musste alles neu sein, koste es, was es wolle. Ketchen hatte das nie verstanden.
Aber Elvira hatte nicht sehr lange etwas davon gehabt. Sie war nicht alt geworden. Viel zu früh gegangen war sie. So wie die Waschmaschine, der Backofen und das Bügeleisen …
Ketchen erschrak über ihre eigenen Gedanken. Das hatte Elvira nicht verdient! Sie war ihrem Bruder keine schlechte Frau gewesen, das nun wirklich nicht.
In der gläsernen Backofenklappe erkannte Ketchen schemenhaft ihr eigenes Spiegelbild. Sie war alt. Viel älter als alle hier. Und das wiederum hatte sie nicht verdient, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Oh ja, es hatte Zeiten gegeben, da hätte sie ohne nachzudenken ihr Leben gegen eines getauscht, das viel zu früh zu Ende gegangen war. Eins, das man kaum noch Leben nennen konnte.
Das war lange her, sehr lange. Eine Begebenheit aus einer anderen Zeit. Meistens lag die Erinnerung daran unter einem schwarzen Schleier, einem staubigen, verfilzten Tuch, das die Zeit irgendwann gnädig darüber ausgebreitet hatte.
Aber seit die junge Familie hier auf dem Hof wohnte, musste sie wieder öfter daran denken: jedes Mal, wenn sie das kleine Kind mit seinen roten Bäckchen und den glitzernden kleinen Augen sah, mit den weißen Zähnchen wie winzige Perlen und den Fingerchen, die so klein und fein waren und doch schon so beherzt zupacken konnten. Nach ihren runzligen, alten Händen.
Ketchen schluckte schwer. Es war alles so unglaublich lange her, und doch tat es so weh, als wäre es gestern erst passiert. Sie seufzte tief, griff nach dem Schüsselchen mit dem Ei und tunkte beherzt den Backpinsel hinein. Der Kuchen würde wieder allen schmecken. Noch ein bisschen warm, mit einem guten Schlag frisch geschlagener Sahne. Jenny liebte ihn, und auch ihrem Jogi schmeckte er besonders gut.
Und auch dem lieben, kleinen Mäuschen mit dem seltsamen schwedischen Namen. Aber da würden sie ihn noch ein bisschen kaltpusten müssen, den Kuchen, dass es keine Bauchschmerzen kriegte. Sie durfte nichts machen, was ihm schadete, dem kleinen Würmchen. Sie musste immer gut aufpassen.
Herbie wischte sich den Schweiß von der Stirn und guckte zu der Quertraverse hinauf. Da saß alles bombenfest. Er hatte jetzt eine geschlagene Stunde lang erfolglos versucht, die Metallachse der Bürste mithilfe einer großen Rohrzange und eines Hammers in eine senkrechte Position zu bringen. Immer wieder rieselten kleine Federn und trockenes Gras irgendwo aus der Höhe auf ihn und den Mercedes herunter. Alle paar Minuten kamen einige der grünen Vögel hereingeflogen, flatterten zeternd herum und ließen ihrer Verdauung freien Lauf.
Der Praktikant hieß Cedric-Maurice, und das Mobiltelefon schien mit seinen Händen verwachsen zu sein. Was auch immer auf dem Display des Geräts zu sehen sein mochte, es erforderte offenbar gleichbleibend fünfundneunzig Prozent seiner Aufmerksamkeit.
Verlier doch nicht gleich die Geduld. Jungen Menschen muss man mit Langmut und Verständnis begegnen .
Cedric-Maurice lehnte an der Waschhallenwand und fixierte das Handydisplay. Herbies Bemühungen nahm er gar nicht zur Kenntnis.
Plötzlich tauchte eine junge Frau neben ihm auf. Sie trug eine Brille mit zierlichem Metallgestell, hatte dunkelbraunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war, und ihre Augen waren von einem außergewöhnlich klaren Blau. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, spielte nervös mit einer leeren Stofftasche und zupfte sich immer wieder die weite, geblümte Bluse auf dem molligen Körper zurecht.
»Hallihallo«, sagte sie, eine Winzigkeit zu fröhlich, als dass es echt geklungen hätte. »Ist der Horst da?«
»Mblmblkrankenhaus«, nuschelte Cedric-Maurice.
»Oh, echt? Was Schlimmes?«
Der Praktikant deutete kaum wahrnehmbar eine Art Schulterzucken an. »Mblmblweißnich.«
»Ich will nur ganz schnell was holen. Muss mich beeilen. Der Kleine schläft.« Mit dem rechten Zeigefinger wies sie ins Ungenaue.
»Sind Sie die Vertretung?«, fragte sie an Herbie gewandt.
»Ich, nein, nein.« Er wog den Hammer in der Hand. »Notfalleinsatz.«
Ein Teufelskerl! Er ist von der Initiative Autowohl, die nicht artgerecht gehaltene Autos befreit .
»Na, okay, sagt Horst jedenfalls liebe Grüße und gute Besserung. Ich lege das Geld auf die Theke. Weißt Bescheid, ja?«
Cedric-Maurice murmelte eine Art Zustimmung.
Dann lief sie hinaus, und Herbie guckte ihrem wippenden Pferdeschwanz nach.
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