Ein gewaltiges Ungetüm von einem Trecker rollte auf den Platz. Die Fensterscheiben klirrten in ihren Einfassungen.
»Sie können wieder loslassen«, sagte sie lächelnd.
»Ich bin Herbie.«
Langsam entwand sie ihm ihre Hand. »Fein, Herbie. Das da ist mein Vater. Er kann Ihnen unter Umständen helfen, Ihren Wagen zu befreien.«
Julius war an die Glasfront getreten, hatte die Lippen gespitzt und die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. Donnerknispel, hast du schon mal so ein Ungetüm gesehen? Dagegen ist ein deutscher Jagdpanzer ja ein Bollerwägelchen .
Der Trecker war wirklich gigantisch. Die sparsame Karosserie war grellgrün lackiert, der restliche Aufbau bestand aus überdimensioniert aussehenden, kraftstrotzenden Funktionsteilen. Die mattschwarze, wie angriffslustig nach unten geneigte Motorhaube sah aus wie der Helm eines Science-Fiction-Kämpfers, mit senkrecht verlaufenden Rillen, die an gefletschte Zähne denken ließen, und mit Scheinwerfern, die an Augenschlitze erinnerten. Die riesigen Räder hatten glänzende, feuerrote Felgen und ein Reifenprofil, in dessen Vertiefungen mühelos der muskulöse Arm eines kräftigen Mannes Platz fand. Zuvorderst ragte eine metallene Kupplung hervor wie eine Hand mit lockend gekrümmtem Zeigefinger.
»Du meine Güte«, hauchte Herbie. »Das Monstrum saugt ja alle Zapfsäulen leer.«
An seiner Seite lachte Fee leise auf. »Papas Lieblingsspielzeug. Ein Fendt 1050 Vario. Hat er sich vorletztes Jahr zum Siebzigsten geschenkt. 517 PS, 14 Tonnen Leergewicht.«
Aber ihr Vater schien nicht zum Tanken angehalten zu haben.
Als sich die Tür des Führerhauses öffnete, schwang sich ein nicht besonders groß gewachsener, rundlicher Mann mit überraschender Behändigkeit heraus, sprang vom Trittrost in die Tiefe und eilte auf die Eingangstür zu. Seine Kleidung war dreckig und zerschlissen, die geflickte Cordhose und das karierte Hemd waren übersät von Farb- und Ölflecken.
Diesem Mann gehörte also diese Nostalgie-Tankstelle mitten im Nirgendwo. Warum besaß man so etwas?
Fee öffnete ihm die Tür und fiel ihm um den Hals. »Dicker, dreckiger Papa«, rief sie munter und drückte ihm einen Kuss auf die rot durchäderte Wange.
Das Gesicht war braun gebrannt, das Kinn stoppelig und die Augenbrauen und der Haarkranz, der seine Halbglatze umwucherte, so zerzaust wie ein Vogelnest. »Liebchen, du bist schon da?«, fragte er überrascht.
»Ja, ich wollte dem Verkehr aus dem Weg gehen. Schlimm?«
Er lachte. »Von wegen. Toll ist das. Toll!« Er packte sie um die Hüfte und küsste sie auf die Wange.
»Der Horst!«, rief er laut. »Wo ist der Horst?«
»Im Krankenhaus«, sagten Fee, Herbie und Julius gleichzeitig.
»Mblmblrankenhaus«, kam es verzögert von Cedric-Maurice.
»Was Ernstes?«, fragte jetzt auch Fees Vater, genauso beiläufig wie seine Tochter wenige Momente zuvor. Keiner schien echtes Mitgefühl mit dem Tankstellen-Pächter zu haben. Er wartete keine Antwort ab. »Kommt mal her, kommt mal her! Das müsst ihr euch ansehen!« Er steuerte die Theke an und legte ein rundliches Bündel auf die abgeschabte Resopalplatte, das er bis jetzt unter den Arm geklemmt hatte. Es war ein lehmverschmierter Lappen, dessen Zipfel er jetzt langsam auseinanderfaltete.
Julius sah, wie Fee ihr T-Shirt abklopfte und auf Flecken untersuchte, und rümpfte die Nase. Alles, was mit diesem Mann in Berührung kommt, scheint unweigerlich eine Dreckkruste zu kriegen .
»Guck mal hier, mein Kind. Ich freue mich so, dass du die Erste bist, die das zu sehen kriegt.« Er fasste das Tuch mit großer Vorsicht an. Seine dicken, schrundigen Finger mit den dreckigen Nägeln hielten die Zipfel, als gelte es, ein zerbrechliches Kunstwerk oder eine Kostbarkeit aus Porzellan zu enthüllen. »Weißt du, dein Vater spinnt überhaupt nicht, mein Kind. Dein Vater spinnt ganz und gar nicht. Der hat jahrelang immer den richtigen Riecher gehabt. Die Römer waren hier.«
Fee seufzte auf. »Och Papa, es sagt doch keiner, dass die Römer nicht in der Eifel waren, aber …« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Hier!«, sagte er mit einem Mal sehr laut. »Hier, genau bei uns waren sie!« Weitere mögliche Einwände wischte er mit einer ruppigen Handbewegung beiseite. Dann schlug er den Stoff vollends zurück. Der Gegenstand, der jetzt zutage trat, war gelblich, rund und erdverkrustet.
König Midas, nur mit Dreck statt Gold. Alles, was er anfasst, wird zu Lehm .
»Die Römer waren hier«, sagte der Mann jetzt ganz leise, fast flüsternd. »Ich habe es immer gewusst. Sie haben hier auf unserem Land gelebt, sie haben hier geliebt, wurden hier geboren, haben hier gearbeitet …« Er hob den runden Gegenstand fast zärtlich aus dem Stoffbündel. »Und sie sind hier gestorben und sind hier begraben worden.«
Fee stieß einen leisen Schreckenslaut aus, der Praktikant ließ sein Handy fallen, und auch Herbie starrte verblüfft auf das Ding, das Fees Vater jetzt mit großer Geste, wie ein alter, aus der Form geratener Hamlet in der ausgestreckten Hand präsentierte.
Das Kerlchen sieht aber nicht gesund aus. Andererseits, wenn ich zweitausend Jahre in der Eifelerde liegen würde, hätte ich vermutlich einen ähnlich freudlosen Gesichtsausdruck . Julius rieb sich nachdenklich seine Nase.
Das, was der Bauer da ehrfurchtsvoll in seinen Händen hielt, war ein menschlicher Schädel.
Herbie und Julius trotteten die schmale Straße entlang, die sich zwischen den Feldern und Ansammlungen von allerlei Buschwerk hindurchwand. Der Mais stand schulterhoch, das andere Getreide war bereits abgeerntet. Als sie eine kleine Anhöhe hinter sich gelassen hatten, war die Tankstelle aus ihrem Blickfeld verschwunden. Dafür sahen sie jetzt, wie der vor ihnen liegende schmale Asphaltstreifen in der Ferne geradewegs auf eine Ansammlung von größeren Gebäuden zulief. Einige davon waren langgestreckte Stallungen mit großflächigen, hellgrauen Dächern. Dazugehöriges Vieh sahen sie nirgends. Ein alter Siloturm war halb vom Efeu überwuchert. Das musste Kaltwassers Aussiedlerhof sein. Von dort aus konnte die Autobahn nur noch einen Steinwurf entfernt sein. Man konnte den Verkehr bis hierher hören.
Etwa auf halber Strecke zwischen ihnen und dem Hof standen das Treckermonster und der weiße Hyundai mitten auf der Straße. Hier gab es offenbar keinen Verkehr, den sie behindern würden. Der Bauer hatte seine Tochter dazu gedrängt, ihm zu der Fundstelle zu folgen, und sie waren kurz nacheinander losgefahren.
Und warum dackelst du jetzt hinterher? Julius stolzierte neben Herbie durch das kniehohe Gras des Wegesrands und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Die Gräser tanzten um seine graue Tuchhose. Er sah aus wie ein Großgrundbesitzer beim Abschreiten seiner Ländereien.
»Wegen der verdammten Waschanlage. Fee hat gesagt, ihr Vater könne mir vielleicht helfen. Jetzt hat er aber erst mal seinen Römerschädel. Vielleicht kann ich ihn ansprechen, wenn er sich zu Ende gefreut hat.«
Hm, na klar. Es hat natürlich gar nichts mit der jungen Dame zu tun .
»Quatsch.«
Natürlich, Quatsch . Es klang unverhohlen spöttisch.
»Ich habe jetzt andere Sorgen, Julius.«
Selbstverständlich .
»Wirklich.«
Klar .
Sie erreichten die geparkten Fahrzeuge und blickten sich um. Weder von Fee noch von ihrem Vater war etwas zu sehen.
»Wo sind sie hin, Julius? Rechts oder links von der Straße?«
Ruf doch mal was Römisches .
In diesem Moment war undeutlich eine Stimme zu hören, und Herbie folgte ihr, indem er sich zur Rechten durch das niedrige Gestrüpp schlug.
Donnerwetter, das nenne ich mal eine Aussicht .
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