Herbie hielt einen Moment inne und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Dies war ein wirklich außergewöhnlicher Platz. Von einem Moment auf den nächsten standen sie an einer Stelle, an der Herbie von niemandem mehr gesehen werden konnte, aber dafür hatte man über die etwas weiter unten verlaufenden Weißdornhecken hinweg einen beeindruckenden Weitblick.
»Aber ja, glaub mir. Siehst du, Kind, genau deswegen haben sie hier ihre Toten begraben«, wurde jetzt die Stimme des Bauern deutlicher. Als sie einen Busch umrundeten, sahen sie, wie er eine weitschweifige Bewegung mit dem rechten Arm machte. »Der ideale Platz. Ich verwette mein letztes Hemd darauf, dass hier noch weitere Gräber sind. Man muss nur suchen. Man muss hier endlich graben!« Er wies in Richtung Norden. »Da hinten ging die Römerstraße lang. Das sind nur ein paar Kilometer. Hier haben sie gelebt. Wo die Grabstätten sind, war auch die Siedlung, ich bin mir sicher.«
Seine Tochter beschattete den Blick mit der flachen Hand. »Ich glaube dir ja, Papa.«
»Wenigstens du.«
Als Herbie sich näherte, fuhren ihre Köpfe herum.
Fee lächelte erfreut. »Na, neugierig geworden?«
Julius grunzte vergnügt. Ich bitte Sie, Frolleinchen, Neugier ist sein zweiter Vorname. Herbert Neugier Feldmann von Naseweis, geborener Vorwitz .
»Ach nein«, sagte Herbie abwehrend. »Ich habe da nur dieses Problem, Sie wissen schon. Und Sie sagten, Ihr Vater …«
»Ach ja, stimmt, Papa. Da ist irgendwas mit der Waschanlage, und …«
»Jaja, soll der Horst sich drum kümmern. Ach nein, der ist ja …«
Fee, Herbie und Julius sagten im Chor: »Im Krankenhaus.«
»Kann der Cedric-Dingenskirchen nicht helfen?«
Fee schüttelte den Kopf. »Das Auto ist eingeklemmt. Ich fürchte, das übersteigt seine Fähigkeiten.«
»Oh, Mist. Ja gut, ich sage dem Jogi Bescheid«, brummte der Bauer und guckte auf die Armbanduhr. »Der müsste gleich von der Schicht kommen.« Es war deutlich erkennbar, dass ihn im Moment nichts auch nur annähernd so sehr interessierte wie sein jüngster historischer Fund. Er machte zwei Schritte auf Herbie zu und fasste ihn beim Oberarm. »Guck dir das mal an, Junge.« Mit sanfter Gewalt zog er ihn an den Rand einer kleinen Bodenwelle und deutete auf die aufgewühlte Erde dahinter. »Es muss beim Gewitter vorletzte Nacht passiert sein. Da ist ordentlich was runtergekommen. Siehst du, da vorne sieht man, wo das Rinnsal von der Straße runtergelaufen ist. Und auch da und da hinten auch noch. Und das muss hier alles freigespült haben.«
Zu ihren Füßen waren offenbar erst kürzlich einige Vertiefungen entstanden, die ganz frisch aussahen. Es war die einzige Stelle ringsum, an der kein Gras mehr stand. Das Erdreich war lehmig und feinkörnig. In den Kuhlen stand der getrocknete Schlamm in handtellergroßen, erstarrten Pfützen. Gelblich-bleich ragten an einer Stelle einige Knochen daraus empor. Sie waren schlank und länglich und lagen parallel zueinander. Es gab keinen Zweifel daran, dass es sich hier um einen Brustkorb handelte.
Julius reckte den Kopf vor und blickte nach unten. Sieht aus wie Kasseler Rippchen mit Püree und Sauerkraut, nur ohne Sauerkraut und ohne Püree. Und abgenagt sind sie auch noch .
Wenn das, was Herbie hier in der Kuhle erkennen konnte, alles gewesen wäre, hätte Herbie nicht sagen können, ob es sich um die Knochen eines Tieres oder eines Menschen handelte. Aber der Schädel, den der Bauer in dem schmutzigen Stoffbündel in seiner Linken hielt, sprach für sich.
Herbie ging in die Hocke, reckte den Arm hinunter und strich mit den Fingern über eine der Rippen. »Römer? Sind Sie sicher?«
»Ja klar«, blaffte der Bauer. Er schien kein Freund gegenteiliger Meinungen zu sein.
»Aber müsste man nicht eigentlich die Polizei …«
»Blödsinn!« Er fuhr mit der Rechten in die Tasche seiner ausgebeulten Cordhose und förderte ein paar kleine Gegenstände zutage. Einen davon schüttelte er sich zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte ihn Herbie in die Hand. Es war ein kleines, annähernd rundes Stück Metall mit schartigem Rand und grob geprägten Linien und Zeichen auf beiden Seiten. Eine römische Münze.
»Guck hier, Constantin der Zweite«, sagte der Bauer. »Vermute ich. Ist stark zerkratzt.«
»Stimmt, kann man kaum erkennen«, murmelte Herbie und hielt sich die Münze ganz dicht vor die Augen.
»Kannst du behalten, ist nicht viel wert. Hier, lauter Zeug aus meinem Boden.« Auf der flachen Hand des Mannes lagen kleine Tonscherben, rostige Metallhaken und weitere Münzen. »Finde ich hier jeden Tag. Da brauch ich nicht mal so ein Suchgerät für wie die Tünnesse aus der Stadt, die hier am Wochenende immer rumdödeln.« Der Bauer ließ die Gegenstände wieder in seine Hosentasche gleiten und zog stattdessen ein Handy aus seiner Weste. An seine Tochter gewandt sagte er ernst: »So, und jetzt werde ich diesen Dr. Schircher in Trier anrufen. Dieses verdammte Großmaul wird auf den Knien angerutscht kommen und mich um Entschuldigung bitten.« Er hielt das Handy in die Höhe und guckte mit zusammengekniffenen Augen auf das Display. Auf der Suche nach einem besseren Empfang ging er ein paar Schritte hügelaufwärts.
»Ihr Vater ist ja wirklich sehr überzeugt davon, dass das hier ein römisches Grab ist«, sagte Herbie, der immer noch am Rande der Vertiefung hockte.
»Oh ja, das ist er. Und ich glaube ihm.« Fee lächelte ihn an. »Seit ich denken kann, hat er meinem Bruder und mir prophezeit, dass er hier, auf unserem Grund und Boden, eines Tages eine archäologische Sensation freilegen würde.«
»Was kann das denn sein? Eine römische Siedlung ist doch nichts Besonderes in der Eifel.«
Ich kenne mich ja nicht aus mit Römern . Julius kratzte sich am Bart. Ich weiß nur, dass sie alle riesige Knollennasen hatten und in Zeltstädten wohnten, die Kleinbonum, Laudanum oder Babaorum hießen .
»Das stimmt schon, römische Siedlungen gibt es genug in der Eifel. Es gibt die Villa in Blankenheim, die in Bad Neuenahr, die Villa Otrang und was weiß ich noch wo. Mein Vater glaubt aber, dass das, was hier begraben liegt, viel, viel größer ist als alles andere, was bis jetzt gefunden wurde.«
Und all ihre Namen endeten auf die Silbe us. Wie bei mir .
Gedankenverloren stupste Herbie mit der Schuhspitze gegen ein Knochenstück, das neben der glatten, runden Höhlung aus der Erde ragte, in der eindeutig der Schädel gesteckt hatte. »Wer ist denn dieser Dr. Schircher, den Ihr Vater jetzt anrufen will?«
Sagte ich schon, dass er schrecklich neugierig ist?
»Vor drei, vier Jahren hat Papa einen Archäologen aus Trier beauftragt. Einen Dr. Schircher. Ziemlich komischer Typ. Ganz anders, als man sich einen Archäologen so vorstellt. Ich habe ihm von Anfang an nicht getraut. Papa hat richtig viel Geld vorgeschossen. Das muss man sich mal vorstellen, er hat das alles finanziert. Jeden zweiten Tag kam dieser Schircher und sagte, wir brauchen noch dies und das. Hier muss noch ein Gerät ausgeliehen werden und da noch Werkzeug beschafft werden …«
»Klingt ein bisschen unseriös.«
»Und wie. Und nach ein paar Wochen gab es dann einen schlimmen Streit, weil dieser Schircher der Meinung war, das wirklich interessante Gelände läge eigentlich weiter da hinten, wo die Ahekapelle steht, und gar nicht hier auf dem Land meiner Familie. Und es wäre mittlerweile für immer und ewig unter der Autobahn begraben. Da ist Papa dann ausgerastet.« Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe und senkte kurz den Blick. »Mein Vater rastet öfter schon mal aus.«
Herbie wusste nicht, was er sagen sollte. Er guckte in die Richtung, in die sie gezeigt hatte.
»Es wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen, wenn mein Vater nicht in den Siebzigern das ganze Land für den Autobahnbau verkauft hätte. Ausgerechnet!« Fee lächelte säuerlich. »Das muss man sich mal vorstellen: Mein Papa hat womöglich damals die ganze kostbare Historie, nach der er so verzweifelt sucht, verscheuert, damit dann meterdick der Asphalt drübergewalzt wurde. Ich glaube, schon allein für die Aussicht, dass das Schicksal ihn so gelinkt hat, hätte er diesen Archäologen am liebsten ordentlich vertrimmt.«
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