Das Motto „fly now, pray later“ (fliege jetzt, bete später), hatte ihr der erste Leiter Ludwig Geißel mit auf den Weg gegeben.
Von der Ungarnhilfe zum Syrienkonflikt
So wie in der Ungarnhilfe folgten in den kommenden Jahrzehnten viele weitere Einsätze bei humanitärer Not infolge von politischen Krisen: In den 1960er Jahren war das die Nothilfe in Nord- und Südvietnam sowie der Einsatz in der nigerianischen Kriegsprovinz Biafra. Die von Ludwig Geißel organisierte Biafra-Luftbrücke gehört bis heute zu den Meilensteinen der internationalen Katastrophenhilfe. Seit den 1970er und 1980er Jahren folgten viele weitere Einsätze bei Hunger- und Kriegskatastrophen in Afrika, beispielsweise in Äthiopien, Somalia, Sudan oder Kongo.
Die 1990er Jahre und das Ende des „Kalten Kriegs“ brachten Europa zurück auf die Agenda der Diakonie Katastrophenhilfe. Die Not war oft groß in den Nachfolgestaaten der zerfallenen Sowjetunion. Dann kam mit dem Jugoslawienkrieg längst überwunden geglaubtes Kriegselend zurück nach Europa. Hier engagierte sich die Diakonie Katastrophenhilfe auch langfristig beim Wiederaufbau von Häusern, Schulen und Krankenhäusern im Sinne einer nachhaltigen Hilfe zur Selbsthilfe.
Das 21. Jahrhundert brachte erneut Krieg nach Afghanistan und Irak. Dort minderte die Diakonie Katastrophenhilfe die humanitären Katastrophen. Die Einsätze beim Hochwasser 2002 in Deutschland, beim Tsunami 2004 in Süd- und Südostasien und weiteren Ländern, beim Erdbeben 2010 auf Haiti, im Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 sowie andauernde Hilfe in Kriegs- und Hungerkrisen in verschiedenen afrikanischen Ländern waren wichtige Einsätze der letzten Jahre. Nach der unmittelbaren Nothilfe nachhaltige Unterstützung zu leisten, die künftige Katastrophen vermeidet oder abmildert und die Betroffenen so weit wie möglich zur Selbsthilfe befähigt, rückte dabei immer mehr auch die Prävention von Katastrophen in den Mittelpunkt. Denn Katastrophen passieren nicht einfach, sie werden von Menschen gemacht und sind Ergebnis vom Raubbau an der Natur oder von machtpolitischen Interessen.
Nach den Anfängen mit einer Handvoll Mitarbeitern und viel ehrenamtlichem Engagement ist die Diakonie Katastrophenhilfe inzwischen zu einer hochprofessionellen spendenbasierten Organisation mit ca. 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwachsen. Es gibt mehrere Regional- und Projektbüros in Afrika, Asien und Amerika, derzeit im Tschad, im Südsudan, in Kenia und im Kongo, in der Türkei, in Pakistan, in Kolumbien und auf Haiti.
Im Jahr 2012 erlebte das humanitäre Hilfswerk eine bedeutende Umstrukturierung. Seit Ende der 1950er Jahre war es Teil des Diakonischen Werks mit Sitz in Stuttgart. Nun gehört es zum neu gegründeten „Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.“ Dieses Werk entstand aus der Fusion des Diakonischen Werks mit der Diakonie Katastrophenhilfe, Brot für die Welt und dem Evangelischen Entwicklungsdienst. Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Vorstandsvorsitzende des Werks und Präsidentin von Brot für die Welt, wo heute die Diakonie Katastrophenhilfe angesiedelt ist.
Die Abteilung Diakonie Katastrophenhilfe leitet heute als Nachfolger von Ludwig Geißel, Hannelore Hensle, Thomas Hoerz und Volker Gerdesmeier Martin Keßler. Die Fusion brachte auch den Umzug von Stuttgart nach Berlin mit sich. Unbeeinflusst davon bleiben die Grundsätze der Arbeit: „Das Mandat der Diakonie Katastrophenhilfe, Betroffenen unabhängig von Religion, Hautfarbe und Nationalität in akuten Notlagen gemäß ihrem Hilfsbedarf so zu helfen, dass sie so bald als möglich wieder auf die eigenen Beine kommen, bleibt durch die Fusion ebenso unverändert wie ihre Arbeitsweise“, hält die Präsidentin Cornelia Füllkrug-Weitzel fest.
Organigramm der Diakonie Katastrophenhilfe
DIE 50ER JAHRE + +
Über die alte „Nibelungenstraße“ Regensburg-Passau-Linz rollten Ende Oktober 1956 zwei Viertonner, randvoll beladen mit Lebensmitteln und Medikamenten. Ihr Ziel war Wien. Die LKWs gehörten dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, das dort eine Zweigstelle zur Unterstützung der Flüchtlinge aus Ungarn eingerichtet hatte.
Zahlreiche Ungarn flohen zu dieser Zeit vor den einmarschierenden sowjetischen Truppen ins Nachbarland Österreich, das mit der Aufnahme der mehr als 200.000 Flüchtlinge vollkommen überfordert war. Der ungarische Aufstand gegen die Regierung löste 1956 in der Bundesrepublik Deutschland eine beispiellose Welle von Hilfeleistungen und Spenden aus. Die im Aufbau begriffene Katastrophenhilfe des Hilfswerks der Evangelischen Kirche erlebte ihre erste große Bewährungsprobe.
UNGARN
NIEDERLANDE
GRIECHENLAND
PALÄSTINA
HONGKONG
Ungarn 1956
„Im Namen Jesu Christi: Kommt und helft uns! Das meiste, was wir auf Erden besessen haben, ist uns verloren gegangen …“ Dieser Hilferuf des ungarischen Bischofs Lajos Ordass erreichte die Ökumene am 2. November 1956 über Radio Budapest. Zu diesem Zeitpunkt waren vor den Augen der Welt alle Hoffnungen auf einen reformsozialistischen Kurs in Ungarn durch sowjetische Truppen gewaltsam zunichte gemacht worden. Zuvor hatten Budapester Studenten gegen die sowjetische Besatzungsmacht protestiert: für mehr Demokratie, freie Wahlen, den Abzug der sowjetischen Truppen und wirtschaftliche Reformen. Auch nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, der ein politisches „Tauwetter“ im Ostblock einleiten sollte, hatte sich die ungarische Regierung geweigert, ihren stalinistischen Kurs zu revidieren. Seit Oktober 1956 erschütterten deshalb heftige Demonstrationen die ungarische Hauptstadt. Dies war der Beginn des Ungarn-Aufstandes. An die Spitze der Bewegung hatte sich der reformsozialistische Politiker Imre Nagy gestellt und am 2. November im Namen einer inoffiziellen Gegenregierung den Austritt seines Landes aus der Staatengemeinschaft des Warschauer Vertrages erklärt. Die Sowjetunion griff ein und sowjetische Truppen lieferten sich auf den Straßen Budapests blutige Schlachten mit den Aufständischen. Die Lage eskalierte. Hatten schon in den Wochen zuvor zahlreiche Ungarn ihr Land verlassen, setzte nun eine Massenflucht ein: Mehr als 200.000 Menschen verließen ihre Heimat.
Mehr als 200.000 geflohene Ungarn müssen versorgt werden.
Fieberhafte Überlegungen
Im Stuttgarter Hauptbüro des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland überlegte man fieberhaft, wie der ungarischen Katastrophe begegnet werden könnte. Bereits im Oktober reiste Ludwig Geißel, der spätere Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, nach Österreich. Mit einer Sofortspende von 20.000 D-Mark für das Österreichische Hilfswerk im Gepäck informierte er sich vor Ort über die Lage. Schon wenige Tage später rollten Lastzüge randvoll mit Decken, Lebensmitteln und Medikamenten von Passau nach Wien. Das sollte die schlimmste Not lindern, reichte aber lange nicht aus. In Zusammenarbeit mit der Inneren Mission, dem Lutherischen Weltdienst und anderen Organisationen initiierte das Hilfswerk eine groß angelegte Soforthilfeaktion für Ungarn. Leitstelle für die „Aktion Ungarnhilfe“ wurde das Hilfswerkbüro in Nürnberg, das zunächst Hilfstransporte direkt in die ungarischen Städte Budapest und Györ schickte. Als sich die Sowjetunion zur blutigen Niederschlagung des Aufstandes entschlossen hatte und sich die Situation vor Ort zuspitzte, konnte sich das Hilfswerk nur noch auf Paketsendungen nach Ungarn und auf Hilfe für die rund 70.000 Flüchtlinge konzentrieren, die in österreichischen Lagern untergekommen waren. Das Hilfswerk stand vor einer bislang unbekannten und mit der vorhandenen Infrastruktur kaum zu lösenden Aufgabe. An die deutsche Bevölkerung erging ein Aufruf zu großzügigen Spenden – mit Erfolg.
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