Das Hilfswerk als Teil der internationalen kirchlichen Netzwerke
Von Anfang an war das Hilfswerk eng in die weltweiten kirchlichen Netzwerke eingebunden. Es kooperierte nicht nur mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf, sondern auch mit dem 1947 gegründeten Lutherischen Weltbund. Als dessen Unterorganisation entstand 1952 der Lutherische Weltdienst. Er koordinierte die weltweite Flüchtlingsfürsorge, den kirchlichen Wiederaufbau und die allgemeine Nothilfe der lutherischen Kirchen. Die deutsche Abteilung des Lutherischen Weltdienstes siedelte ihr Hauptbüro des Hilfswerks ebenfalls in Stuttgart an. „Die deutsche Christenheit ist nach 1945 vielfältig und schnell wieder in die ökumenischen Beziehungen hineingenommen worden. Es wird kaum jemand in der Lage sein, diese Tatsache umfassend in ihren Einzelheiten zu würdigen.“ (Christian Berg, Leiter der Ökumenischen Abteilung des Diakonischen Werks, 1957)
Elisabeth Urbig
(geb. 1905 in Berlin; gest. 1998 ebd.)
war nach Kriegsende Übersetzerin bei der amerikanischen Militärregierung in Berlin. Von 1947 bis 1972 arbeitete sie im Zentralbüro des Hilfswerks in Stuttgart, wo sie für die Auslandskontakte zuständig war. Gemeinsam mit Herbert Krimm war sie 1954 die wichtigste Mitarbeiterin der ersten Stunde. Urbig betreute verschiedene Projekte im Rahmen der ökumenischen Hilfe. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag in der zwischenkirchlichen Hilfe. Sie unterstützte als Mitarbeiterin für Ökumeneaufgaben Ludwig Geißel und später Hans-Otto Hahn bei der Planung und Abwicklung von Hilfsprojekten im Ausland. Elisabeth Urbig formulierte 1957 ihren Grundsatz: „Ökumenische Diakonie kann niemals nur nehmend oder nur gebend sein, sie ist immer beides: geben und nehmen.“
Zwischen Hilfswerk, Weltkirchenrat und Lutherischem Weltbund entstanden zahlreiche ideelle sowie personelle Verflechtungen. Der spätere Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, Ludwig Geißel, war ein engagierter Mitarbeiter im Lutherischen Weltdienst. Herbert Krimm, seit 1951 Leiter des Hilfswerks, vertrat die deutsche Evangelische Kirche in der Abteilung für zwischenkirchliche Hilfe und Flüchtlingsdienst des Ökumenischen Rates. Gerade in diesen vielfältigen Verflechtungen liegen die – institutionell nicht immer eindeutigen – Ursprünge der Diakonie Katastrophenhilfe.
Erste Spenden an Notleidende im Ausland
Die Anfangsgeschichte der Katastrophenhilfe ist vor allem die Geschichte vom tatkräftigen Handeln einzelner Personen und ihrer Überzeugungen. Sie öffneten den Deutschen die Augen für das Leid jenseits des eigenen Horizonts. Hervorzuheben sind: Herbert Krimm, Ludwig Geißel, Elisabeth Urbig und Christian Berg, der spätere Mitgründer und Namensgeber der 1959 ins Leben gerufenen Aktion Brot für die Welt. Dabei spielte nicht zuletzt die Erkenntnis eine Rolle, dass die Probleme der Gegenwart nur in einer weltumspannenden Verantwortlichkeit zu lösen seien: „Wir sind auf Gedeih und Verderb eine Familie unter dem Himmel. Die Forderung an die Völker der ganzen Welt lautet heute, sich um den Menschen und seine Bedürfnisse zu kümmern, wo immer er lebt.“ (Christian Berg, 1957)
Herbert Krimm
(geb. 1905 in Przemysl, Galizien; gest. 2002 in Karlsruhe)
war Pfarrerund Direktor des Hilfswerks. Während des Zweiten Weltkrieges wirkte Krimm als Militärpfarrer und nahm Kontakte zur Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ auf, wo er Eugen Gerstenmaier traf. Gerstenmeier berief Krimm 1946 in die Leitung des Hilfswerks. 1951 trat Krimm die Nachfolge Gerstenmaiers als Direktor an. Er gründete 1954 die Abteilung Ökumenische Diakonie in Stuttgart und war einer der geistigen Väter der Diakonie Katastrophenhilfe. 1954 bis 1970 leitete er das Diakoniewissenschaftlichen Institut in Heidelberg. Danach arbeitete er als Seelsorger in einer Nervenklinik. Herbert Krimm orientierte sich an dem Grundsatz: „Die eigentliche, die schwerste, aber auch die bedeutsamste Aufgabe: die Mitverantwortung für die Not der Welt zu einem ebenso selbstverständlichen und undiskutablen Bestandteil des Gemeindelebens zu machen wie die Sorge um die Not in der eigenen Mitte.“
Durch die internationalen Kontakte gewannen die Hilfswerkmitarbeiter tiefe Einblicke in die weltweiten Nöte. So erinnerte sich Elisabeth Urbig, die im Hilfswerk für die Auslandskontakte zuständig war, Mitte der 1950er Jahre: „Der Wendepunkt in unserer ökumenischen Diakonie fing so an, dass ausländische Besucher nicht mehr allein nach Europa kamen, um sich in Deutschland umzusehen, sondern von Asien, von Korea, von Japan, von Indien und Pakistan und von der arabischen Tragödie erzählten. Ihre Berichte gipfelten immer darin: ‚Ja, hier in Deutschland ist es gewiss noch schlimm, aber die Not in Korea, in Jordanien, in Griechenland …‘ – das haben wir uns einfach nicht vorstellen können.“
Um hier zu helfen, überreichte das Hilfswerk 1951 eine erste Spende an den Ökumenischen Rat der Kirchen. Im Begleitschreiben hieß es: „Diese erste Beihilfe zur Linderung der Flüchtlingsnot außerhalb Deutschlands soll auch als Ausdruck des Dankes für alle Hilfe gesehen werden, die Deutschland und seiner evangelischen Christenheit in den letzten Jahren aus Mitteln ausländischer Kirchen zugeflossen ist. Sie soll ein Zeichen dafür sein, dass das Bewusstsein der Verantwortung auch für die Not außerhalb unserer Grenzen im Wachsen begriffen ist.“ Dabei war man sich bewusst, dass es sich nur um „kleine Gaben“ handelte: „Aber sie sind ein Anfang, der die Verpflichtung zu solcher Hilfe bestätigt.“
Was 1951 begann und sich mit einer ersten größeren Hilfsaktion 1953 nach der Flut in den Niederlanden fortsetzte, verdichtete sich 1954. Dieses Jahr steht für einen in dieser Deutlichkeit einmaligen moralischen Appell an die deutschen evangelischen Christen, international Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig gab es innerhalb des Hilfswerks einschneidende Veränderungen. Beides zusammen erhebt 1954 zu dem wichtigen Jahr in der Entstehungsgeschichte der Diakonie Katastrophenhilfe.
1954 als Gründungsjahr der Diakonie Katastrophenhilfe
Unter dem Titel „Drei Meilensteine. Der Weg des Hilfswerks durch das neue Jahr“ rief 1954 Herbert Krimm als Leiter des Hilfswerks die evangelischen Christen in Deutschland mit Nachdruck zu einer „Gesamtverantwortung für die Not [auf], einer Verantwortung, die nicht begrenzt ist nach Ländern, Erdteilen und Hautfarben, nicht billig abzuschütteln durch einen Seitenblick auf die Verschiedenheiten des Kulturstandes und der zivilisatorischen Lebensansprüche“. Im gleichen Jahr wurde die Ökumenische Diakonie als Abteilung des Hilfswerks gegründet und das Ökumenische Notprogramm ins Leben gerufen. Erstmals wurde so die diakonische Aufgabe der Katastrophenhilfe außerhalb der eigenen Landesgrenzen, wenn auch unter anderem Namen, institutionalisiert. Was heute als Diakonie Katastrophenhilfe besteht, war damals das Ökumenische Notprogramm oder wurde mit Begriffen wie Ökumenische Diakonie oder Nothilfe beschrieben. Als ausländische Nothilfe bezeichnete man auch die Aktion „Kirchen helfen Kirchen“, die sich ausschließlich dem Wiederaufbau von Gemeinden widmete, aber in den Quellen vielfach der Katastrophenhilfe zugeordnet wird. Die verschiedenen Namen zeigen, dass die Diakonie Katastrophenhilfe eben noch nicht etabliert und institutionalisiert war. Sie war im Entstehen begriffen und ihre Gründungsgeschichte muss als Prozess verstanden werden.
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