ANDREAS JUNGWIRTH
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Er würde gerne ein Reh schießen, hat David gesagt. Um es bluten zu sehen, hat er gesagt. Er hat ein Gewehr angelegt – eines, das gar nicht da war. Und er hat die Luft angehalten, als würde er wirklich mit einem Gewehr auf ein Reh zielen.
Drück schon ab!, hab ich gesagt.
David hat nicht abgedrückt. Stattdessen hat er das Gewehr in meine Richtung bewegt, hat mir die Mündung auf die Brust gesetzt.
Hast du Angst?, hat er gefragt.
Nicht ich habe gezittert, warum auch, es war ja kein Gewehr da. Er hat gezittert. Und plötzlich flüstert er, das Gewehr immer noch im Anschlag: Was ich an dir mag, ist das Geheime / jedes Wort zu viel ist schon Gefahr / denn so schnell verfällt ins Allgemeine / was zuvor so ganz besonders war …
Ich habe jedes Wort gehört, aber kein Wort verstanden: Ist das von dir?
Was denkst du? Hab ich Talent?
Wir waren vierzehn. Ich hatte ein eigenes Zimmer, er nicht. Wir trafen uns immer bei mir. Immer nur zu zweit. Sein Zimmer habe ich nie gesehen. Zu mir zu kommen, bedeutete für ihn fünfundvierzig Minuten Fahrradfahren, an der Kirche und am Wirtshaus im Dorf vorbei, beim Elektrogeschäft rechts abbiegen, in die Straße mit den Einfamilienhäusern. Dort hatten auch meine Eltern direkt am Waldrand in den Sechzigerjahren ein Haus gebaut. So hieß auch die Straße: Am Waldrand.
Als Kind stand ich in der Dämmerung auf der Wiese hinter dem Haus, sah zwischen den Bäumen die Schatten der Indianer und Cowboys und wilden Tiere, wie sie in den Büchern vorkamen, die ich damals las. Mit pochendem Herzen und rotem Kopf lauschte ich auf das Donnern in der Ferne. Aber erst viel später habe ich kapiert: Das waren keine Büffelherden. Es waren LKWs, die über die Autobahn donnerten, die hinter dem Wald vorbeiführte.
David und ich verbrachten unsere Nachmittage auf einem Hochstand auf einer Lichtung des Waldes hinter dem Haus meiner Eltern. Wir redeten tiefsinniges Zeug. Nicht-Tiefsinniges war nicht unsere Sache. Hat das Weltall ein Ende? Ja. Nein. Was wird sein, wenn wir tot sind? Wir waren uns einig: nichts. Und dass wir uns dieses Nichts nicht vorstellen können. Auch darin waren wir uns einig. Und deshalb haben wir gesagt, es würde doch etwas sein, nämlich alles genauso wie jetzt, nur seitenverkehrt.
Nach der Matura bin ich nach Salzburg gegangen, um Soziologie zu studieren, David nach Wien. Er fing mit Zoologie an, sattelte aber nach zwei Semestern auf Germanistik um. Aber da hatten wir schon keinen Kontakt mehr … bis ich Ende September 2001 David in Berlin zufällig wiederbegegnete. In Neukölln. Am Kanal. Das Wetter ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Er kam direkt auf mich zu gejoggt. Schweißperlen auf der Stirn wie Schmuck. Diese funkelnden Perlen waren mir aufgefallen, noch bevor ich wusste, wer das war, der da plötzlich vor mir stand.
Hallo!
Hi!
Eigentlich gab es damals kein anderes Thema als 9/11, auch wir haben darüber geredet.
Was für ein Spektakel!, sagte David und lachte.
Er redete über 9/11, als wären Worte egal, als wäre überhaupt alles egal, als müsste man alles als Phänomen betrachten, Dinge passieren, weil sie passieren können. Auch über sich selbst redete er, als müsste man nichts von dem, was er sagte, so genau nehmen. Er sprach über sich, ohne dass ich etwas über ihn erfuhr. Eigentlich wollte er gar nicht mit mir reden, eigentlich wollte er weiter, aber er schaffte den Absprung einfach nicht.
Ich werde übrigens demnächst den Jagdschein machen, sagte ich in eine plötzliche Stille.
David sah schweigend durch mich hindurch.
Gehst du mit mir auf die Jagd? Schießen wir ein Reh?
Machst du wirklich den Jagdschein?, fragte David ohne wirkliches Interesse.
Was ich an dir mag, ist das Geheime / jedes Wort zu viel ist schon Gefahr … das Gedicht war auch nicht von dir.
Nein, sagte David.
Aber du hast es behauptet.
Und du hast es geglaubt.
Wieder zitterte er, so wie damals, als Vierzehnjähriger auf dem Hochstand, als er das Gewehr auf mich richtete.
Mir ist kalt, erklärte David, ich bin verschwitzt, ich will nicht krank werden.
Er stand auf und schaute eine Weile völlig reglos auf das träge Wasser des Kanals. Zwei Enten ließen sich stromabwärts treiben. Dann ließ er seinen Oberkörper nach vorne fallen, bis seine Fingerspitzen den Boden berührten. Wirbel für Wirbel richtete er sich wieder auf, streckte sich, dann lief er davon, ohne ein weiteres Wort.
The Beggar’s Opera von John Gay? Kennt niemand. Brechts Dreigroschenoper ? Kennt jeder. Die Oper von Gay wurde in Wien zuletzt Anfang der Achtzigerjahre in der Volksoper aufgeführt.
In der Pause nach dem zweiten Akt habe ich ihn um eine Zigarette gebeten. Vor über dreißig Jahren. Dreißig Jahre sind eine echt scheißlange Zeit. David hat noch exakt eine Zigarette gehabt, er hat sie angesteckt, und dann ist sie zwischen uns hin- und hergegangen, wie ein Joint.
Wie findest du die Aufführung?
Er hat mit den Schultern gezuckt.
Also nicht gut?
Du?
Auch nicht gut.
Ich auch nicht.
Warum sagst du es dann nicht einfach?
David ist rot geworden. Er hatte nichts Falsches sagen wollen.
Wir haben die Zigarette fertig geraucht, dann habe ich auf die Uhr geschaut.
Damals bin ich mindestens dreimal pro Woche in die Oper gegangen, bezahlt habe ich selten, ich hatte meine Tricks. Ich habe gewusst, wenn wir jetzt ein Taxi nehmen, kommen wir rechtzeitig zur zweiten Pause der Walküre in die Staatsoper.
Am Opernring aus dem Taxi raus, die Leute sind tatsächlich gerade zurück auf ihre Plätze, wir einfach hoch in den obersten Rang, niemand hat eine Eintrittskarte verlangt oder hat uns sonst irgendwie daran hindern wollen, die Walküre zu sehen.
Die Walküre ist damals für mich der Hammer gewesen. Überhaupt Wagner. Besser als jeder Rausch.
Ich habe so viele Jahre nicht an David gedacht, und jetzt fällt mir eins nach dem anderen wieder ein: David hatte gerade die Matura gemacht und war für ein paar Tage nach Wien gekommen, hat bei seinem Cousin am Nestroyplatz übernachtet, das war damals noch eine wilde Gegend, kein ATV gegenüber, keine chicen Lokale, kein Ansari, kein Mochi, dort hat damals noch niemand wohnen wollen.
Nach der Oper etwas essen, im ersten Bezirk, gleich bei der Synagoge, das Lokal gibt es heute nicht mehr, geredet: Ich wollte damals ein bekannter Pianist werden, berühmt wie Vladimir Horowitz. David wollte Verhaltensforscher werden, berühmt wie Konrad Lorenz.
Es war fast Mitternacht, als wir am Donaukanal entlanggegangen sind.
Der Vollmond hat sich im Wasser gespiegelt. Das Wasser hat gestunken. Nicht nur an diesem Tag, es hat immer gestunken, egal zu welcher Jahreszeit. Damals wurde noch alles ungefiltert in den Kanal geleitet. Ich muss nur daran denken, dann habe ich den Geruch schon in der Nase. Und neben mir dieser duftende Maturant, siebzehn, achtzehn Jahre alt …
Schritte, Schweigen, dann: Ich möchte dir gerne meine Wohnung zeigen. Was Besseres fiel mir nicht ein.
Und er: Okay.
Echt?
Falsch.
Was?
Scherz.
Im Wohnzimmer stand ein Bösendorfer.
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