Rosemarie Molser sagt: »Herbert hat mir geholfen, erwachsen zu werden. Und ich habe ihm später geholfen, alt zu werden.«
Sie fügt hinzu: »Mein Leben war eine merkwürdige Mischung aus Tragödie und Glück. Es hat mich gelehrt, dass man Grausamkeit und Schrecken überleben und gleichwohl liebevoll und nachsichtig bleiben kann. Schnell urteilen, das kann wohl jeder, aber die Würde des Menschen zu achten ist oft schwierig. Mir ist es so ergangen, dass ich an der Grausamkeit so vieler fast zerbrochen wäre, doch hatte ich auch Glück, und ich überlebte schließlich, weil es immer ein paar Menschen gab, die helfen wollten.«
Das Haus der Familie Marienthal am Bochumer Stadtpark wurde nach dem Kriege verkauft. Aber auch hier stand kein guter Stern über dem Gebäude, das durch den Bombeneinschlag schwer gezeichnet war. Ein Bekannter der Familie, der sich um die Angelegenheit kümmerte und der die behördlichen Dinge in Bochum regeln wollte, sorgte für einen Kaufabschluss exakt zehn Tage vor der Währungsreform, so dass von dem Geld nichts mehr für die Familie übrig blieb.
Rosemarie Molser lebt heute in Verhältnissen, wie sie vielleicht denen ihrer Familie in Bochum entsprochen hätten, wenn es anders gekommen wäre. Sie ist in sozialen Einrichtungen engagiert und beteiligt sich am jüdischen Leben ihrer Stadt. Oft wird sie von Schulen eingeladen, um den Jugendlichen vom Schicksal der Marienthals zu erzählen, ein Angebot, das sie gern wahrnimmt. Im letzten Jahr hat sie Bochum besucht und sich mit einigen ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen der Schiller-Schule getroffen, also der Schule, von welcher sie wegen einer ehrlichen und gleichwohl unbedachten Äußerung als junges Mädchen, im Grunde als Kind, relegiert worden war. Mit ihren Mitschülerinnen Inge und Christel hat Rosemarie Kaffee getrunken. Sie hat die Gräber der Großeltern aufgesucht. Und mit Hubert Schneider ist sie zum »Alten Stadtpark« gefahren, wo sie noch einmal das Haus betrachtet hat.
Als ich diesen Text aufschreibe, zählen wir schon das Jahr 2005. Es ist jetzt Anfang März. Der Winter gebärdet sich hartnäckig, will nicht weichen, es gibt ihn also doch noch. Nach dem Schreiben muss ich noch einmal raus. Spazierengehen an der frischen, knackigen Luft sei gesund, höre ich, mache mich also zu Fuß auf, wieder einmal die Grummer Teiche entlang, ein gutes Stückchen an der Bergstraße, dann nach links und die mittlere Gabelung zum alten Stadtpark hinauf. Das Haus der Marienthals steht in dieser Jahreszeit sehr frei da, denn die Bäume und Sträucher sind immer noch kahl. Wunderlich erscheint mir nach wie vor die Asymmetrie der beiden Hälften – das passt nicht zusammen.
Auf dem Heimweg durch den Stadtpark, in dem es schon am späten Nachmittag luftig und kalt ist, muss ich den Kragen meines Mantels hochschlagen. Mir kommen die Eingangsverse zur Schubertschen »Winterreise« in den Kopf. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«, so heißt es im ersten Lied des Zyklus. Wilhelm Müller aus Dessau, der Heimatstadt von Moses Mendelssohn, hat den Text geschrieben. Dessau, das ist der Ort, in dessen Stadtpark vor fünf Jahren der Mosambikaner Alberto Adriano von drei Neonazis erschlagen wurde. Es ist auch die Stadt, in deren Straßen erst vor ein paar Tagen dreihundert Rechtsradikale einen »Trauermarsch« inszenieren durften, um ihre unappetitliche Version des Andenkens an das Bombardement der Stadt vor 60 Jahren zu zelebrieren.
»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.« Es scheint so, als ob viele Juden, die später aus ihren Häusern und aus Deutschland vertrieben wurden, zunächst einmal nicht wahrgenommen hätten, dass sie bei manchen ihrer Nachbarn schon als Fremde galten, seit sie eingezogen waren. Beim Auszug wussten sie es alle. Man kann es ihnen nicht verdenken, wenn einige der Überlebenden bis heute Fremde bleiben wollen.
(2005)
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