Gelebt hat Heinrich Kämpchen viele Jahre in Linden, unweit der Grenze nach Dahlhausen. Dort steht bis auf den heutigen Tag an der Dr.-C.-Otto-Straße – damals hieß sie noch Bahnhofstraße – das Haus mit der Nummer 46, in dem Kämpchen dreißig Jahre lang als »Kostgänger« bei der Familie Küper gewohnt hat und wo er schließlich am 6. März 1912 gestorben ist.
Das Haus mit dem Erker, der zwei Stockwerke erfasst, steht direkt an der Straße, ein Gartenzaun begrenzt es zur Nachbarschaft. Der schmuckvolle Eingang liegt an der Seite, vielleicht stammen die schönen Stuck-Verzierungen noch aus der Zeit, als Kämpchen die Dachstube bewohnte. Eine Gedenktafel, die an den »Bergarbeiter, Streikführer und Dichter« erinnert, wurde erst vor wenigen Jahren angebracht. Sie ist von der Straße aus nicht besonders gut zu erkennen, eigentlich nur von jemandem wahrzunehmen, der schon weiß, was er sucht. Die Gedenktafel enthält eins der wenigen Porträts, das Kämpchen als jungen Mann zeigt – hier ist er 33 Jahre alt. Auf der Tafel sind seine wichtigsten Lebensdaten verzeichnet, und ein kleines Stück Kämpchen-Literatur ist dort auch abgedruckt. Dabei handelt es sich um die beiden ersten sowie die vorletzte Strophe eines Gedichts, das in der Originalfassung aus elf Strophen besteht:
Heimat
So liegst du wieder ausgespannt
vor meinen Blicken, lachend Land,
mit deinen Tälern, deinen Höh’n
mit Berg und Burgen wunderschön.
Wie oft schon hast du mich entzückt,
du Land, mit jedem Reiz geschmückt,
wenn ich die Augen schweifen ließ
auf dich, mein Heimatparadies.
Und schafft das Leben Müh und Qual,
du bist doch schön, mein Heimattal!
Du hast gelabt mich und erquickt,
wenn Schwermut mir das Herz bedrückt.
Liest man in Kämpchens Sammlung »Neue Lieder« auch noch die auf der Lindener Gedenktafel nicht abgedruckten Strophen, so erkennt man unschwer, dass dieses Gedicht der unmittelbaren Umgebung des Dichters, nämlich der »silberhellen« und »blanken« Ruhr und ihrem Tal gewidmet ist. Wenn er in die Dachstube des Hauses Küper stieg, musste sich Heinrich Kämpchen wahrscheinlich ein bisschen aus dem Fenster lehnen, um einen Blick auf die Ruhr zu werfen, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er sie damals sehen konnte.
Im Jahre 1984 erschien im Oberhausener Asso Verlag ein Buch mit einer Sammlung von Kämpchens Gedichten, das von Walter Köpping eingeleitet und von den vier Herausgebern gewissenhaft kommentiert worden ist. Es trägt den Titel »Seid einig, seid einig – dann sind wir auch frei«; das ist ein an Schillers »Wilhelm Tell« erinnerndes Zitat aus Kämpchens bekanntem Lied »Glück auf!«, dem Internationalen Knappenlied, wie es in allen Publikationen genannt wird. In diesem Buch ist ein Interview aus dem Jahre 1979 abgedruckt, in dem Hedwig Spiekermann, die Tochter der Familie Küper, bei der Kämpchen als »Kostgänger« gelebt hatte, im Alter von 89 Jahren ihre Erinnerungen an den Dichter geschildert hat:
»Als H. K. gemaßregelt wurde, das war nach dem Streik – er war vielleicht 42 Jahre alt –, bekam er keine Arbeit mehr auf der Zeche. Er hat sich kümmerlich durchgeschlagen. Er hat, wenn Kirmes war, ein kleines Tischchen von uns mitgenommen und Zigarren verkauft, weil er ja kein Geld mehr kriegte. Die Kollegen kannten ihn, und er hat viel verkauft. Zum Glück war meine Mutter gut, und an Essen und Trinken hat es ihm nicht gemangelt; er hat sehr billig bei uns gewohnt. Er selbst war sehr genügsam. Er bekam dann auch nicht viel Invalidengeld, früher gab es ja nicht so viel Rente. Unterstützung von seinem Bruder hätte er nicht angenommen.
Später ging es dann besser, da er Einnahmen durch seine Gedichte hatte. Er hat dann Gedichte gemacht, die er nach Bochum zur ›Bergarbeiterzeitung‹ brachte. Er sagte dann zu mir: ›Halt mir die Daumen, dass mein Gedicht in Bochum angenommen wird.‹ Das war nicht sicher, aber meistens hat es geklappt. Dann bekam er Geld für das Gedicht. H. K. hatte ein gutes Verhältnis zur »Bergarbeiterzeitung«. Es kam auch vor, dass er etwas an den Gedichten ändern sollte. Das hat er dann getan – er war nicht ärgerlich darüber.
Die Gedichte schrieb er meistens abends, wenn er im Bett lag, oder morgens ganz früh. Sie fielen ihm dann am besten ein. – Für manche Gedichte hat er auch länger gebraucht. Er kritzelte sie auf ein Papier, mit einem ganz kleinen Bleistift. Wenn ich ihm dann einen größeren geben wollte, hat er das immer abgelehnt. Morgens hat er das Gedicht dann ins Reine geschrieben und sofort nach Bochum gebracht. Er ging meistens einen Weg zu Fuß – und der Weg war sehr weit –, die Straßenbahn war zu teuer.«
In dem eingangs erwähnten Literaturführer von Max Geißler wird ein Besucher des Hauses Küper in Linden zitiert, der die Wohn- und Arbeitsverhältnisse Heinrich Kämpchens einfühlsam beschreibt:
»Anspruchslos wie der mit den Nöten des Lebens vertraute Dichter selbst ist auch die Ausstattung seines Heims, in dem er lesend, träumend und Verse schreibend seine stillen Tage in genügsamer Beschaulichkeit verbringt. An den Wänden ein paar abgeblasste Bilder und ein Vogelbauer, auf den schmalen Fenstersimsen in roten Tontöpfen einige Blumen – das ist neben dem Notwendigen der einzige Luxus; aber Kämpchen müsste kein Dichtersmann und Fabulierer sein, wenn er in diesem Poetenwinkel sich nicht wohlfühlen sollte.«
In ihrem Interview beschreibt Hedwig Spiekermann Kämpchen als gerecht und ehrlich. Schöne, ruhige Musik habe er geliebt, keine Tanz- oder Marschmusik. Autos seien ihm verhasst gewesen, denn die Abgase waren ihm nicht geheuer. Körperlich habe er immer zart, etwas kränklich gewirkt, »nicht bettlägerig, aber schwach«. Auf dem bekannten Bild aus dem Jahre 1909 wirke er kräftiger, als er war; es mache der große Bart, »dass er nicht so schmächtig aussah«. Meistens hatte er einen grünen Anzug an, schlicht und einfach. Auf der Straße trug er einen Lodenmantel.
Einer von denen, die immer wieder nachdrücklich an Heinrich Kämpchen erinnern und auch manchmal dessen Wege gehen, ist Hans Drescher, pensionierter Konrektor an der Hauptschule. Er hat mich eingeladen, ihn auf seinem Rundgang zu begleiten. Wir beginnen – wo denn sonst? – auf der Heinrich-Kämpchen-Straße. Herr Drescher lebt selbst in dieser Straße, im Haus Nr. 32. Dort ist er Nachbar von Hugo Ernst Käufer, einem heutigen Bochumer Dichter, von dem ich denke, dass er sich mit Heinrich Kämpchen gut verstanden hätte; beide geradlinig und mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ausgestattet, das hätte sie verbunden; beide haben es in ihrer literarischen Arbeit nicht nötig gehabt, Herkunft und Heimat zu verleugnen. Seinen Kollegen Kämpchen hat Hugo Ernst Käufer in dem kleinen Text »Kortum & Kämpchen« so beschrieben: »Ein Prolet, für den das Wort Waffe war, der für die Hoffnung auf bessere Zeiten stritt, in denen der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf ist.«
Der Rundgang mit Herrn Drescher, dessen beide Großväter auch Bergleute waren, führt die Heinrich-Kämpchen-Straße hinab, bis sie in die Keilstraße mündet. Weiter unten, am Schulzentrum Südwest, sind wir schon in Dahlhausen, dort passieren wir die Theodor-Körner-Schule und landen vor der Heinrich-Kämpchen-Schule, der Hauptschule im Zentrum. Sie ist im Neubau untergebracht; das scheint auch weiterhin so zu bleiben, obwohl in den Zeitungen immer wieder von Umzugsplänen die Rede ist. Es klingelt zur großen Pause. Der Namensgeber der Anstalt wäre sicherlich überrascht, wenn er die bunte Mischung sehen könnte, die da aus den Eingangstoren strömt, auch die Vielfalt der Sprachen hätte ihn verwundert.
Unser Weg führt uns die Dr.-C.-Otto-Straße hinauf, wo wir wenige Meter vor der Linkskurve am Haus Nr. 46 verharren, noch einmal die Tafel studieren, die dem Gedächtnis des Dichters gewidmet ist. Wir überqueren die Straße, folgen dem Kesterkamp, dann über die Hattinger Straße hinweg, vorbei am Tusculum des Dr. Krüger. Herr Drescher erzählt mir, dass er sich schon in seiner Arbeit zum Staatsexamen mit Kämpchen beschäftigt hat. Während seiner Zeit als Volks- und Hauptschullehrer hat er immer wieder den Schülern Texte des Bochumer Dichters nahe gebracht.
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