Der Lebensweg der Amélie Köhler, genannt Nora, hat jedenfalls wenig mit dem von Ibsens Nora gemein. Nora Köhler ist nicht die bescheidene Frau, die eher im Hintergrund wirkt und irgendwann einmal ihre Kräfte bündelt und den alles entscheidenden Entschluss fasst. Nora Köhler hat sich schon immer eingemischt. Sie stammte aus der weit verzweigten jüdischen Familie Würzburger, deren Mitglieder im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert im öffentlichen Leben der Stadt Bochum eine wichtige Rolle spielten. Ihr Vater war der Sanitätsrat Dr. med. Abraham Würzburger, dessen Grabstein auf dem jüdischen Friedhof an der Wasserstraße erhalten geblieben ist.
Jedenfalls mischt sie von Anfang an kräftig mit. Als ihr Mann sich vom Bochumer Verein trennt, wird sie in der neu gegründeten »Westfälischen Stahlindustrie« für die Köhler-Partei eine Art Chefin des Generalstabs. Als dann der Bochumer Verein das Konkurrenzwerk aufkauft, avanciert sie auch in den »Westfälischen Stahlwerken« in Weitmar zur eigentlichen Seele der Betriebsleitung. In einem Nachruf auf Nora Köhler im Werksblatt des Bochumer Vereins vom 19. Juni 1914 heißt es:
»Man rühmte Köhler als einen Mann mit großen Sachkenntnissen, der es auch verstand, mit seinen Leuten menschlich umzugehen, der aber nicht die Energie besaß, sich gegenüber seiner allzu energischen Frau durchzusetzen, der man auch im Allgemeinen wenig sympathische Züge nachrühmte. Frau Nora kommandierte und dirigierte auf dem Werk sowohl den Oberingenieur wie auch den Laufburschen, behandelte beide wie Schuhputzer. […] Ihrem exzentrischen Auftreten ist es auch nicht zuletzt zuzuschreiben, dass viele leistungsfähige Männer dem Köhlerschen Schürzen-Regiment Valet sagten.«
Vielleicht würde man heute manches anders ausdrücken, manches vorsichtiger formulieren. Schürzen-Regimenter waren im Jahr des Kriegsausbruchs nicht gerade beliebt. Als der Generaldirektor Köhler seinen Abschied aus der Firma nahm, hielt Frau Nora Köhler die große Rede beim Abschiedsmahl; sie ahnte und sprach dies auch deutlich aus, dass dem Werk keine rosige Zukunft bevorstand. Und sie sollte mit ihrer Prognose Recht behalten.
Auf anderem Terrain allerdings versagte ihre Weitsicht. Als ihr Mann starb, hinterließ er seiner Frau ein Vermögen von 2 Millionen Reichsmark und die fürstliche Villa am Stadtpark. Nora Köhler spekulierte mit ihrem Geld an der Börse. Sie riskierte alles – und verlor alles. Auch das prächtige Haus an der Kaiser-Wilhelm-Straße. Der große Kalikrach im Jahre 1909 gab ihr gewissermaßen den Rest, da sie außerordentlich viele Kaliaktien besaß. Im Werksblatt des Bochumer Vereins lautet der Kommentar:
»Eine zur Krankhaftigkeit gesteigerte Spekulationswut ließ sie wie einen von der Leidenschaft ergriffenen Spieler alles auf eine Karte setzen, bis sie den letzten Heller verjuxt hatte. […] Die Freunde im Glück erwiesen sich als falsch, wozu auch ihr Auftreten in diesen Tagen beigetragen hatte: es ging bergab und bergab, bis sie, die zuletzt auch noch dem Alkohol verfallen, der öffentlichen Armenpflege zur Last fiel. Die Frau, die Menschen und Existenzen als der ausgesprochenste Typ des kapitalistischen Herrenmenschen wie ein Stück Papier, wie Gußstahlschienen oder altes Eisen behandelt hatte, bekam nun am Ende ihres Lebens noch die ganze Härte der Gesellschaftsordnung zu spüren – was einen menschlich rühren muss –, deren Produkt sie war.«
Die mehrfache Millionärin, die eine fürstliche Villa am Bochumer Stadtpark bewohnte und sich nur in den feinsten Karossen ausfahren ließ, fand sich irgendwann in einem Dachzimmer auf einer Schütte Stroh wieder. Bettelnd trieb sie sich in den Straßen Bochums umher, sprach bei einstigen Bekannten vor, wurde von der Polizei aufgegriffen und im »grünen August« – heute würde man sagen: in der »grünen Minna« – zum Krankenhaus gebracht. Dort verweigerte man die Aufnahme, und Nora Köhler wurde der Armenverwaltung übergeben. Die Witwe des einstigen Generaldirektors Köhler starb einsam und verlassen in der Landesarmenanstalt in Geseke. In der Bochumer Köhler-Gruft ist sie nicht beigesetzt worden. Es ist gut möglich, dass sie auf dem Begräbnisplatz der Landesarmenanstalt in Geseke begraben wurde.
Aber nach Noras Tod geht es irgendwie weiter mit der nach ihr benannten Villa. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wird aus der Villa Nora für einige Zeit die »Villa Balcke«. Auch Hans Balcke ist von Beruf Ingenieur; auch ihn schmückt die Berufsbezeichnung »Generaldirektor«. Der Maschinenbau ist sein Metier.
Als die Familie Balcke im Jahre 1926 auszieht, wird die Villa Nora Ausstellungsort der Städtischen Gemäldegalerie in Bochum. Dies bleibt so bis in die letzten Kriegsjahre hinein.
Am Tag der massivsten Bombenangriffe auf Bochum, am 4. November 1944, wird die Villa Nora schwer getroffen; Kunstwerke, die Kunstbibliothek und Einrichtungsgegenstände werden vernichtet. Der Ausstellungsbetrieb der Gemäldegalerie wird eingestellt.
Wenn man hinten um die Villa herumgeht, sieht man, wo später angestückelt wurde. Eberhard Brand beziffert den Schadensgrad der Villa Nora auf 30 bis 50 Prozent. Er hat diese Angaben dem offiziellen Stadtplan »Bochum 1945«, der vom Katasteramt herausgegeben wurde, entnommen. Der Stadtplan ist zuverlässig. Er dokumentiert die Zerstörungsgrade bei den einzelnen Bochumer Häusern im Maßstab 1:500.
In diesem Stadtplan gibt es nun im Grundriss des Hauses »Kaiser-Wilhelm-Str. 24/Gemäldegalerie« noch einen merkwürdigen Zusatz. Vom »Umbau in eine Warnzentrale« ist dort die Rede. Brand erklärt:
»Es spricht vieles für die Annahme, dass das große und vielräumige, offensichtlich unbeschädigte Kellergeschoss als Luftkrieg-Warnzentrale genutzt wurde. Und dies trotz der erheblichen oberirdischen Bombenschäden am Gebäude. Das Haus lag unweit der Bochumer Innenstadt, und die war ja weitgehend zerstört. Knapp 30 Räume und Räumchen, Schleusen und Kammern, dazu Kellerfenster-Verkleidungen und Armierungen sowie Befestigungen der Zu- und Ausgänge unter Luftschutz-Erfordernissen sind auf der Grundrisszeichnung auszumachen.«
Und wie kommen nun die Goethe-Schüler in dieses herrschaftliche Gebäude? Es ist ganz schlicht die Raumnot, die sie einziehen lässt. Nach dem Kriege wird die Stadt Bochum Eigentümerin des Hauses. Auch die Straßennamen werden geflissentlich geändert: Aus Nummer 24 der Kaiser-Wilhelm-Straße wird die Nummer 156 der Kortumstraße. Der heimische Dichter nun für den deutschen Monarchen.
Zunächst einmal ziehen die Stadtwerke ein. Später kommen dann tatsächlich die Goethe-Schüler ins Haus und mit ihnen auch wieder die alte Bezeichnung der »Villa Nora«. Wer hinter der Bezeichnung steckt, wissen nur noch wenige. Für eine kleine Zeit weichen die Goethe-Schüler noch einmal der Verwaltung der Fachhochschule, doch seit 1981 sind sie wieder hier. Das Goethe-Café kennt man in der Bochumer Innenstadt. Die sechs Räume, in denen unterrichtet wird, haben den üppigen Charme von großen Altbauwohnungen der Jahrhundertwende, aber Beleuchtung, Heizung und Akustik sind im Grunde eine Katastrophe. Auch dies ist also nichts für die Ewigkeit.
In den Köpfen der Lokalpolitiker soll es, so hört man, schon rumoren, es soll Ideen geben, wie es denn weitergehen könnte mit dieser Villa, deren Name überhaupt mit vielerlei Spekulationen verbunden ist. Der Lehrer Eberhard Brand wandert mit mir noch einmal um das Gebäude herum und über den Hof. Hinten steht sein Fahrrad. Natürlich ganz gewissenhaft abgeschlossen. Auch Goethe-Schüler sind eben Schüler.
Was das Haus betrifft, so kennt Brand auch die letzten, die neuesten Spekulationen. Aber er sagt nichts davon. Er klemmt seine Aktentasche mit den Klausuren der Goethe-Schüler fest auf den Gepäckträger, schwingt sich aufs Rad und fährt nach Hause.
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