»Die Stadt, Genosse Komandir«, warnte ich.
»Die Stadt«, wiederholte Wassili.
Aus Wassili Sinizyns Verhör
Ich habe schließlich das Recht, mit jedem zu sprechen, selbst mit Gott, wenn wir ihn einzufangen vermöchten und sich herausstellte, dass wir recht hatten: Es gibt keinen Gott. Ein vernünftiges Gespräch brachten wir nicht zustande. Ich war angetrunken, plapperte, was mir auf der Zunge lag, persönliche Erlebnisse. Er stammelte überhaupt nur einzelne Worte, doch in meinem Kopf verbanden sich diese auf wundersame Weise zu Sätzen und es sah fast so aus, als führten wir ein sinnvolles Gespräch.
Die Stadt durchritten wir unbemerkt und kaum hatten wir den Stab erreicht, erteilte ich zwei Befehle: »Blumen und Marja Petrowna«. Blumen bekamen wir, doch die Sache mit Marja Petrowna gestaltete sich derart, dass ich jetzt nur in jeglicher Hinsicht mein Bedauern äußern kann: wegen der Blumen, wegen dem Krieg, den wir, könnte man sagen, zu zweit mit Afanassi mit einem Lastwagen durchquert hatten, und der uns nicht umgebracht, sondern nur viel zu leicht verletzt hatte, wegen Mutter und Vater, die eines Abends miteinander geschlafen und mich dann in die Welt geschoben hatten. Ich bin schon seit je der festen Meinung, dass der wahre Vater und die wahre Mutter eines Menschen nicht im Entferntesten diejenigen sind, die wir von Kindesbeinen an kennen. Die wahren Eltern sind der Tag, die Stunde und der Augenblick, in dem der Mensch gezeugt wurde. Denn im nächsten Augenblick wäre bereits ein anderer Mensch gezeugt worden, der vielleicht genauso im Krieg Afanassi begegnete, Žemaitis aus der Erde zöge, Fedja Blumen holen ließe und die ganze verdrehte Sache mit Marja Petrowna, Marinuschka, durchgezogen hätte. Nur mit dem Unterschied, dass er es jetzt wäre, der dieses erniedrigende Verhör über sich ergehen ließe und nicht ich.
»Geh, Afanassi. Klopf an«, befahl ich. »Sag, wie es aussieht, haben wir den Krieg gewonnen. Mach nur nicht zu viel Lärm darum«. Dann befahl ich ihm zu gehen und winkte Fjodor zu mir. »Fedja, und du holst Blumen. Einen Strauß. Falls man Bezahlung wünscht, dann bezahl.«
»Was für Blumen, Genosse Komandir?«, fragte Fjodor und gab damit zu verstehen, dass dies nichts Neues für ihn war. »Falls man mich fragt?«
»Alle möglichen«, erwiderte ich. »Verletz mir nur niemanden«, warnte ich ihn und sah, dass Afanassi noch immer neben mir stand. »Und du, Afanassi, geh jetzt.«
»Schon zurück, Genosse Komandir«, rapportierte er.
»Und?«
»Wird nicht gehen.«
Diese Antwort klang so, als folgte sie der Frage: »Marja Golubkowa, Vatersname Petrowna, wollen Sie Wassili Sinizyn, Vatersname Iwanowitsch, zum Mann nehmen und ihn das ganze Leben lang lieben?« Und ihre Antwort lautete in etwa: »Zurzeit drücken mich die Schuhe sehr«.
Dieses »wird nicht gehen« passte so gar nicht zu unserer Heldentat vom Morgen. Es war zu klein.
»Geh schon«, schubste ich Afanassi. Wenn du drinnen bist, dann sag: »ich fürchte, Sie arbeiten umsonst so hart«. Ich packte ihn am Ärmel. »Sag das nicht. Sag, »hier will Sie jemand zum See fahren. Wird Sie baden. Sie werden ihm Kinder ausbrüten. Obwohl Sie nicht umsonst so hart arbeiten.«
»Wer ist das?«, fragte Afanassi verstört.
Ich gab ihm keine Antwort, denn in der Tür stand Marja Petrowna. Ich wollte einen Schritt in ihre Richtung gehen, doch das Gehen fiel mir schwer. Ich lehnte mich an den Wagen und beschloss, ihren Anblick aus der Ferne zu genießen.
Ich fragte mich in der zweiten Person: »Wassili, liebst du sie schon?« Und die dritte Person antwortete: »Er liebt schon.« Und die erste fügte an: »Und wie.« Alle drei Personen waren sich bezüglich Marja Petrowna einig und ich dachte bei mir, wie wenige Dinge es doch im Leben gab, die man ohne zu zweifeln annahm.
Ich lächelte. Sie faltete die Hände auf der Brust und ich folgte ihrem Beispiel. Ich sah das wunderbare Haus, in dessen Tür sie stand. Es war alt, grün, aus Holz. Marja Petrownas Dastehen mit auf der Brust gefalteten Händen tauchte es in ein helles Licht. Und ich bat das Haus um Verzeihung, dass Marja Petrowna nie mehr so würde dastehen können. Ich hielt einen besseren Ort für sie bereit. Das Haus wimmerte. Drinnen fand noch immer das Verhör statt.
Sie ging einen Schritt auf mich zu. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Ich dachte, sie werde diese Strähne ergreifen und in ihr Ende beißen. Damit wäre alles gesagt gewesen. Die Entfernung, die uns noch trennte, würde ich weiter dahinschmelzen lassen. Doch sie strich ihr Haar zur Seite, so wie man ein Insekt verscheucht, trat zum Wagen und sah ihn so an, als ob sich dort die Seen befänden, in die zu waten ich ihr gleich vorschlagen würde.
»Sei gegrüßt, Žemaitis«, sagte sie.
Vielleicht nicht ganz das, was ich erwartet hatte. Ich hatte etwas Feierlicheres erwartet, doch als ich ihre Worte für mich übersetzte (»das ist er, der Sieg«, sagte in meinem Bewusstsein Marja Petrowna), da fand ich diese Worte treffend. Genau so eine Frau brauchte ich, die mir später sagen würde: »Da ist es, das Wasser, da ist er, der See, da ist er, wie klein er doch ist, gerade erst zur Welt gekommen, wir wollen ihn Iwan nennen, da ist es, das Alter, da schau nur, Wassiliok, wir haben gelebt.«
Deshalb fand ich auch ihre Frage »Warum nass?« passend. »Da, wie nass er doch ist«, übersetzte ich sie.
»Wir haben ihn gebadet«, erklärte ich.
»Trocknet ihn ab«, sagte Marja Petrowna.
Ich antwortete ihr:
»Haben wir. Wir hatten ihn zugedeckt. Und gerade erst abgedeckt.«
Sie wandte sich mir zu und streckte mir die Hand entgegen. Ich wartete darauf, dass sie sagen würde »Da, meine Hand. Du brauchtest sie.«
»Was ist, Marinuschka?«, ermunterte ich sie.
»Her mit der Waffe – und dann ab ins Bett. Morgen unterhalten wir uns. Und dass du mir nüchtern bist.«
Nüchtern war ich noch im selben Augenblick. Alle »Da ist er, der Sieg« und »Da ist sie, die Hand« verpufften aus ihrem Körper und verschwanden unwiederbringlich.
Beim Vertreiben derselben sagte sie noch:
»Morgen halte ich dir eine Standpauke.«
Und ich erwiderte bestimmt:
»Sie werden mir keine Standpauke halten.«
Sie packte mich am Futteral und ich drückte dort ihre Hand an mich. Für einen Augenblick sah es so aus, als ob sie in meinem Geldbeutel herumwühlen würde, ich sie dabei ertappt und gesagt hätte: »Schon bald wird es uns beiden gehören.«
Dann ließ ich zu, dass sie mir die Waffe wegnahm.
»Ab ins Bett«, sagte sie, während sie einen Schritt zurückwich.
Ich stand da, als würde ich mit einer Hand rauchen, während ich die andere zur Faust geballt ausgestreckte, mir jemand auf die ausgestreckte Hand hieb und riefe: »Gewonnen. Gewonnen.«
»Und was ist daran nicht in Ordnung.«
»Morgen«, sagte sie.
»Morgen sind wir bereits weit weg von hier«, sagte ich. »Sagen sie es mir jetzt.«
»Wozu hast du den hergebracht.«
»Ich dachte, ich zeige ihn Ihnen, dann weiter, wo immer hin«, erklärte ich. »Wahrscheinlich bekommen Sie nicht jeden Tag so einen zu Gesicht.«
Müdigkeit, vermischt mit irgendeiner unangenehmen Erinnerung trat in ihr Gesicht, das sich überhaupt seit dem Augenblick, als sie zur Tür herausgetreten war, nicht zum Guten verändert hatte.
»Manchmal jeden Tag«, sprach Marja Petrowna. »Dieser Žemaitis hat sich mehr um uns verdient gemacht als drei von deiner Sorte, Wassili, die für die Heimat gefallen sind, wenn man sie nebeneinander legt. Nur einen Orden, den wird er nicht bekommen. Obwohl ich ihm einen geben würde. Ab ins Bett!«
Jener schrie »Gewonnen. Ich« und ließ mich zu seiner eigenen Überraschung zu Boden gehen.
»Sie würden ihm also einen verpassen«, sagte ich, doch das war nicht für sie bestimmt. Offenbar ein Clown. Hat sich lächerlich gemacht. »Den nackten Oberschenkel darfst du berühren, wenn du willst, doch Spiritus habe ich keinen«.
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