Der Paradigmenwechsel würde außerdem die Art und Weise verändern, wie wir wissenschaftliche Arbeit betreiben – er würde zu einer Verbesserung der Methoden und einem Sinneswandel führen. Die Beweislast würde künftig den Skeptikern zufallen, die ihre Behauptungen „beweisen“ müssten, dass Tiere keine Emotionen empfinden und nicht wirklich Schmerz fühlen. Es wäre nicht mehr länger akzeptabel zu sagen, „da wir nicht wirklich wissen, was Tiere fühlen, lasst uns davon ausgehen, dass, was immer sie (wenn überhaupt) fühlen, nicht von Bedeutung ist.“ Es würde die Art und Weise verändern, wie Wissenschaftler Experimente und Tests durchführen und ein humaneres Umfeld für uns alle schaffen. Tiere zu respektieren, zu schützen und zu lieben würde der Wissenschaft nicht schaden, noch würde es bedeuten, wir Menschen würden weniger respektiert, geschützt und geliebt. Wenn Sie Ihren Hund füttern, heißt das, Ihr Kind muss hungern? Nein, natürlich nicht. Mit ein wenig Überlegung und Vorausschau kann für alle gesorgt werden.
Und am Wichtigsten: Davon auszugehen, dass Tiere über ein reiches Gefühlsleben verfügen, schadet niemandem. Ein schönes Zitat aus unbekannter Quelle trifft den Kern:
„Wenn ich davon ausgehe, dass Tiere subjektive Gefühle von Schmerz, Angst, Hunger usw. verspüren und ich damit falsch liege, dann habe ich niemandem geschadet; doch wenn ich vom Gegenteil ausgehe, Tiere jedoch tatsächlich solche Gefühle haben, dann öffne ich grenzenlosen Grausamkeiten damit Tür und Tor … Es muss heißen: Im Zweifel für die Tiere – wenn denn überhaupt noch irgendwelche Zweifel bestehen.“
WAS WIR MIT UNSEREM WISSEN ANFANGEN
Als Wissenschaftler werde ich für meine ausgeprägte Einstellung für die Tiere oft kritisiert, es wird mir vorgeworfen, nicht wissenschaftlich vorzugehen. Ich bin nicht gegen die Wissenschaft. Es liegt in der besten Tradition der Wissenschaft, Fragen im Hinblick auf die Ethik zu stellen. Es ist nicht nichtwissenschaftlich zu fragen, was wir tun, wenn wir mit anderen Tieren interagieren. Ethik kann unseren Blick auf andere Tiere bereichern, wie sie in ihrer Welt sind und wie wir sie im Zusammenhang mit unserer Welt sehen. Sie hilft uns zu erkennen, dass ihre Leben es wert sind, ihnen Respekt, Bewunderung und Wertschätzung entgegenzubringen. Es geht allerdings nicht unbedingt um Respekt, Bewunderung und Wertschätzung, wenn viele Menschen die Gesellschaft von Walen, Delfinen, Eisbären und Vögeln suchen. Wir brauchen Tiere in unserem Leben genauso, wie wir die Luft zum Atmen brauchen. Wir leben in einer kranken Welt, in der viele von uns von den Tieren und der Natur entfremdet sind. Tiere sind unsere vollkommenen Gefährten, die uns Tag für Tag helfen. Ohne enge, gegenseitige Beziehungen mit anderen tierischen Wesen sind wir von der reichen, vielfältigen und großartigen Welt, in der wir leben, entfremdet. Deshalb suchen wir bei Tieren emotionale Unterstützung. Unsere altsteinzeitlichen Gehirne ziehen uns zu dem zurück, was natürlich, doch in unserer schnelllebigen Welt verloren gegangen ist: Zu den engen Beziehungen mit anderen Lebewesen, die uns dabei helfen herauszufinden, wer wir im großen Plan der Dinge sind. Tiere trösten uns und bringen uns mit dem in Berührung, was wirklich von Bedeutung ist – mit anderen empfindungsfähigen Wesen. Ein empfindungsfähiges Tier ist eines, für das Gefühle von Bedeutung sind, wie mein Kollege John Webster es ausdrückt.
Wenn wir lernen können, konsequent mit dieser Perspektive zu leben, würden sich sehr viele Dinge, in denen Tiere von der menschlichen Gesellschaft benutzt und missbraucht werden, zum Besseren wenden. Tatsächlich schulden wir es den Tieren, ihnen wie, wann und wo auch immer zu helfen. Anfangen können wir damit, dass wir unser eigenes Leben unter die Lupe nehmen und die besten und ethischsten Entscheidungen treffen. Unterstützen wir mit den Kleidern, die wir tragen, und der Nahrung, die wir zu uns nehmen, humane Industrien und Praktiken? Wenn wir Menschen sehen, von denen wir wissen, dass sie schädliche Entscheidungen treffen, können wir dabei helfen, sie zu warnen oder sie zu lehren, sich zu verändern? Gibt es Möglichkeiten, uns selbst besser zu schulen und strengere Tierschutzgesetze zu verfolgen? Tag für Tag wird weltweit viel zu vielen Tieren Schaden zugefügt. Wenn wir Herzen und Verstand und besonders aber gängige Praktiken ändern können, werden wir Fortschritte machen und es besteht Hoffnung.
In meinem eigenen Forschungsbereich ist mir bewusst, dass solide Wissenschaft mit Ethik und Anteilnahme ohne weiteres vereinbar ist. Es ist nichts falsch an mitfühlender oder gefühlvoller Wissenschaft – und auch nicht an mitfühlenden und gefühlvollen Wissenschaftlern. Untersuchungen in den Bereichen des tierischen Denkens, der Emotionen und des Ich-Bewusstseins sowie im Bereich Verhaltensökologie und Schutz der biologischen Vielfalt können sowohl mit Anteilnahme als auch wissenschaftlich gründlich durchgeführt werden. Die Wissenschaft und die Behandlung von Tieren nach ethischen Grundsätzen schließen einander nicht aus. Mit offenem Denken und einem großen Herzen können wir solide wissenschaftliche Arbeit leisten.
Ich ermutige jeden dazu, seinem Herzen mit Liebe zu folgen, nicht mit Angst. Wenn wir uns alle auf diesen Weg begeben, wird die Welt für alle Lebewesen ein besserer Ort sein. Wenn wir uns von unseren Herzen führen lassen, werden freundlichere und humanere Entscheidungen getroffen werden. Mitgefühl erzeugt Mitgefühl und die Fürsorge und Liebe für Tiere weitet sich auf Mitgefühl und Fürsorge für Menschen aus. Es ist sehr wichtig, den Schutzschirm des Mitgefühls freigebig und ohne Grenzen zu teilen.
JASPER UND PABLO: ZWEI VON VIELEN
Jeder Mensch und jedes lebendige Wesen
hat das geheiligte Anrecht auf die Freude des Frühlings .
– Leo Tolstoi –
Ich habe dieses Buch Jasper und Pablo gewidmet. Jasper ist ein Kragenbär, der früher auf einer Gallefarm in China in einem Quetschkäfig gehalten wurde [27]. Quetschkäfige werden benutzt, um den Körper des Bären so zusammenzupressen, dass sich die Menge an Gallenflüssigkeit, die das Tier produziert, maximiert (diese wird mittels eines Katheters in der Gallenblase entnommen). Jasper wurde in einem winzigen Käfig gehalten – ein „rostiges Gefängnis der Folter“, laut Jill Robinson, der Gründerin von Animals Asia – und über viele Jahre zur Erlangung seiner Gallenflüssigkeit, eines Stoffes, der in der traditionellen chinesischen Medizin Anwendung findet, fortwährenden Qualen ausgesetzt. „Dieser arme Bär wurde in seinem Käfig durch eine Platte zu Boden gedrückt, was die Höhe des Käfigs halbierte und Jasper platt auf dem Boden liegen ließ“, schrieb Robinson mir. „Er konnte weder sitzen noch stehen und war überhaupt kaum in der Lage, sich zu bewegen. Es geht über jede Vorstellung hinaus, dass ein wilder, intelligenter Bär in diesem Zustand 15 Jahre seines Lebens verbringen musste, bevor er gerettet werden konnte. Jasper war Opfer einer Katheterimplantation in die Gallenblase und seine physische und geistige Agonie muss unaussprechlich gewesen sein. Jasper ist heute ein spitzbübischer, Spaß liebender Bär, der jedermanns Freund ist, gleich ob Bär oder Mensch. Seine schönen, vertrauensvoll blickenden Augen zeigen die absolute Vergebung, zu der seine Spezies fähig ist, und die uns in unserem Ziel, so viele Bären wie möglich zu retten, bestätigt.“
Im Jahr 2004 wurde John Capitanio, Direktor eines der größten Primaten-Forschungszentren, gefragt, ob Tiere Emotionen haben, und er erwiderte wegwerfend, Tiere seien „eine neutrale Leinwand, auf die wir unsere Bedürfnisse, Gefühle und Ansichten malen“ [28]. Jasper ist alles andere als eine neutrale Leinwand. Er ist ein Wesen mit tiefen Gefühlen, kein Ding, das wiederholt gefoltert wurde, und natürlich gefiel ihm das nicht. Wie kann irgendein menschliches Wesen ein anderes fühlendes Wesen auf diese Weise behandeln? Ich nenne Jasper gerne den „Sprecher der Bären für Hoffnung und Freiheit“. Trotz aller Folter konnte Jasper vergeben.
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