MARTIN THOMAS PESL
Das Buch
der Tiere
100 animalische Streifzüge
durch die Weltliteratur
aufgespürt, studiert und erklärt von Martin Thomas Pesl
illustriert von Kristof Kepler
Am Theater und im Film gibt es die Regel: Wer Kinder oder Tiere ins Rampenlicht stellt, ist selber schuld, wenn ihm die Schau gestohlen wird. In der Literatur ist das ähnlich, wenn auch auf einer abstrakteren Ebene. Und da an der Entstehung von Büchern keine eitlen Stars und geltungsbedürftige Diven beteiligt sind, sind der Vertierung der Literatur seit jeher keine Grenzen gesetzt (ebensowenig wie der Verkinderung übrigens). Diejenigen, die die Bücher schreiben, wissen ganz genau: Die Leserinnen und Leser werden sie umso mehr lieben (und kaufen), je mehr Tiere darin vorkommen und je genauer sie betrachtet und beschrieben werden. So einfach ist das.
Und natürlich ist es nicht ganz so einfach. Der Einsatz vierbeiniger Freunde, gefiederter Feinde, schwimmender Gefahren und trötender Hindernisse ist vielfältiger, als man im ersten Moment denkt. Das musste auch ich feststellen, als ich mich entschloss, als neuen Topos für eine weltliterarische Werkschau das Tierische im Menschlichen heranzuziehen.
Nach der erfreulichen Zusammenarbeit mit dem Verlag Edition Atelier und dem Zeichner Kristof Kepler an dem humorvollen Literaturlexikon Das Buch der Schurken stand schon bald fest, dass man so etwas gerne noch einmal hätte: eine Sammlung mit genau hundert Einträgen zu bekannten oder noch zu entdeckenden Figuren aus der Weltliteratur, recht subjektiven (aber dennoch ein bisschen informativen) Ausführungen dazu und einer Originalzeichnung. Besonderheiten der Hundertschaft der Schurken: Kein Autor und keine Autorin wiederholt sich, und es wurde eine gewisse Ausgewogenheit zwischen den Bösewichtern verschiedenster Formen, Farben, Geschlechter und Ausprägungen versucht.
Nachdem mich die fertige Schurkenliste insgesamt recht zufriedenstellte – sie war zwar natürlich nicht erschöpfend, aber bei den meisten, die fehlten, konnte ich dafür eine plausible Rechtfertigung aus dem Hut zaubern –, stellte sich die Frage, ob es denn noch andere große Kategorien gibt, die sich auf diese Weise aufschlüsseln lassen. Helden? Langweilig! Und bitte, was ist schon ein Held? Antihelden? Interessant, aber auch in hohem Maße Ansichtssache. Ich wollte diesmal ein Einschlusskriterium, das weniger stark einer Bewertung unterworfen ist, ein deskriptives, kein qualitatives. Einen Vorschlag erhielt ich bei einer Lesung aus meinem Buch der Schurken von einer inspirierten Besucherin: Das Buch der Gurken . Ich war sehr angetan, doch kamen mir auf Anhieb nur zwei literarische Gurken in den Sinn.
So landete ich schnell bei den Viecherln, und mein Verlag, der auch genau weiß, dass nur Tiere sich besser verkaufen als Sex (ah, vielleicht fällt mir da gerade noch ein drittes Gurkenbuch ein!), zeigte sich begeistert. Kristof Kepler, der Illustrator, war überhaupt ganz aus dem Häuschen.
Die hundert Tiere zu finden, erwies sich als schwierig, aber aus anderen Gründen als zuletzt bei den Schurken: Das Kramen im eigenen Kanon brachte nicht besonders viele Exemplare hervor – vermutlich bin ich lektüretechnisch zu früh erwachsen geworden, habe also viele der klassischen Kindergeschichten übersprungen. (Gerade in Sachen Tieren ist mir einiges entgangen, als ich klein war: Meine Mutter nannte als Lieblingstier die Giraffe, weil die so weit oben ist, dass sie nichts mit ihr zu tun haben muss; vor dem Reiten hatte ich Angst, und das einzige Haustier, das ich mir – erfolglos – wünschte, war eine Schildkröte, weil ich vermutete, dass sie weniger Arbeit machte als ein Meerschweinchen.)
Ich war also besonders auf ein Crowdsourcing unter meinen hochgeschätzten und gebildeten Bekannten angewiesen, doch auch das fiel diesmal höchst unbefriedigend aus: Alle nannten gleich einmal Black Beauty , dann wussten sie nicht mehr weiter. Black Beauty!? Tatsächlich gab es vor dem Film, der offenbar die Kindheit meines gesamten Freundeskreises in verstörendem Ausmaß geprägt hat, einen didaktischen Öko-Roman von einer gewissen Anna Sewell aus dem Jahr 1877. Aus Trotz, dass meine Freunde mir keine literarisch hochwertigeren Ideen einzuimpfen wussten, sah ich über diese Stute arrogant hinweg.
Rückblickend weiß ich Folgendes über literarische Tiere: Es. Gibt. So. Viele! Pferde vor allem, Hunde, Vögel, Affen. Ich liebe Affen, ich deklariere mich hiermit als äußerst affenaffin, aber es gibt einfach so unendliche viele davon! Während ich im ersten Moment noch dachte, ich würde auch Theaterstücke und Filme »zulassen« oder die Regel »nur eine Figur pro Autor oder Autorin« aufheben müssen, stellte ich bald fest, dass allein die fiktiven Prosa-Tiere ein Vielfaches des mir zur Verfügung stehenden Umfangs füllen könnten. (Natürlich gibt es auch einige Überschneidungen zu den Schurken , weshalb ich mir ganz frech erlaubt habe, zwei von ihnen exemplarisch aus dem Vorgängerbuch in dieses zu übernehmen, einen kleinen und einen großen: den Bandwurm nach Irvine Welsh und Melvilles Moby Dick.)
Bei jedem Gang in die Bücherei, den ich unternahm, um einen bestimmten Roman zu finden, warfen sich mir fünf ganz andere Tierbücher, von denen ich noch nicht gehört hatte, vor die Füße und bettelten um meine Gunst wie junge Hunde. Wenn ich dann Radio hörte, erfuhr ich von der neuesten Neuerscheinung auf dem Belletristiksektor, die wieder einem neuen Elefanten oder Okapi in die Seele blickt. Und mein Kollege bei der Wochenzeitung Falter , Klaus Nüchtern, rief für die Literaturbeilage im Frühjahr 2017 einen animalischen Schwerpunkt aus. Es erscheint einfach ständig neues Tierisches.
Geschichte der Tiere in der Literatur
Die Attraktion des Animalischen als literarisches Mittel hat niemals nachgelassen, seit sich im Alten Testament die Schlange wichtigmachte. In allen alten Sagen, religiösen Schriften und nationalen Epen finden wir nach wenigen Seiten die erste Erwähnung eines Tieres, und praktisch immer hat es menschliche oder magische Züge. Ja, die Erzählenden und Erfindenden hielten es damals nur ganz schlecht aus, das Tier Tier sein zu lassen. Auch im indischen Epos Ramayana und in der chinesischen Reise in den Westen ist es völlig selbstverständlich, dass der wichtigste Handlungsträger jeweils ein Affe ist. Die Natur musste beseelt sein, und da Gott oder Götter, Teufel und Dämonen nicht in den profanen Menschen steckten, mussten sie in diese anderen Lebewesen hinein, die in Wirklichkeit nie etwas sagten, aber irgendwie klüger zu sein schienen als sie aussahen.
Daher ist es nur verständlich, dass die Menschen neugierig waren, was in diesen ihren entfernten Verwandten vorging. Sie wollten sich in sie hineinversetzen, wenn auch nur vorübergehend. Verwandlungen waren also schon vor Hunderten von Jahren ein beliebter Topos in der Literatur, Ovid widmete ihnen gar sein Lebenswerk. In Apuleius’ goldenem Esel und später Shakespeares Sommernachtstraum (der hier nicht vorkommt, weil ein Theaterstück) wurde der Mensch im Sinne der allgemeinen Belustigung zum Esel und wieder zum Menschen – eine Symbolik, die viel über unseren Blick auf uns selbst aussagt.
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