莊子
Zhuangzi
Das Buch der daoistischen Weisheit
Gesamttext
Aus dem Chinesischen von Viktor Kalinke
Reclam
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Coverabbildung: Zhuangzi träumt von einem Schmetterling, Tuschezeichnung von Lu Zhi, Mitte 16. Jahrhundert
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961540-0
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011239-7
www.reclam.de
內篇
Innere Kapitel
1
逍遙遊 (xiāo yáo yóu)
Unbekümmertes Spazieren
Das erste Kapitel des Buches Zhuangzi beschwört ein mythologisches Gleichnis, das individuelle Freiheit als höchsten Wert setzt und in Metaphern die Kraft beschreibt, die ihr innewohnt. Für Guo Xiang (252–312), Herausgeber des Zhuangzi in der Standardausgabe, besteht der Wunsch aller Lebewesen, ihren Neigungen spontan zu folgen, unabhängig von ihrer Größe, er richtet sich nur nach ihren natürlichen Bedürfnissen. Indem sie die Verbindung zu allem, worauf sich ihre Existenz stützt, nicht verlieren, öffnet sich ihnen der Raum der Freiheit. Lu Deming zufolge ist das Zeichen 逍 im Shuowen zu verstehen als »get rid of, eliminate«, 遙 als »distant, remote«, auch geschrieben 搖 in der Bedeutung »swing, sway«, sowie 遊 als »wander«. Als Komposit liest Lu Deming 逍遙 im Sinne von »carefree, at ease, free and unfettered, wander about leisurely«, die Überschrift insgesamt erläuterte er mit den Worten: »Its name coming from the idea of attaining happiness from endless leisure and comfort« (Lu Deming / Chai, S. 34).
Im dunklen Nordmeer lebt ein Fisch, der Kun genannt wird. Kun ist groß, und niemand weiß, wie viele Li (Meilen) er lang ist. Er verwandelt sich in einen Vogel, der Peng genannt wird. Pengs Rücken ist breit, und niemand weiß, wie viele Li er sich erstreckt. Schwingt er sich auf und fliegt durch die Lüfte, sind seine Flügel groß wie Wolken, die den Himmel bedecken. Ist die See bewegt, zieht der Vogel zum Südmeer. Das Südmeer ist der See des Himmels.
In den Fabeln von Qi sind merkwürdige Geschichten aufgezeichnet, in ihnen heißt es: »Wenn Peng zum Südmeer fliegt, schlagen die Wellen dreitausend Li hoch, der Wirbelwind hebt ihn auf eine Höhe von neunzigtausend Li . So fliegt er sechs Monate lang.« [Wolken türmen sich wie] Wildpferde, Staub wirbelt auf, die Lebewesen hauchen einander Atemluft zu – der Himmel wölbt sich blau darüber; ist es seine wirkliche Farbe oder scheint es nur so, weil er so weit und endlos ist? Wer von oben herabblickt, sieht dasselbe – das ist alles.
Ist das Wasser nicht tief genug, kann es ein großes Boot nicht tragen. Schüttet man einen Becher Wasser in eine Kuhle auf dem Boden, kann ein Grashalm oder Senfkorn darauf schwimmen wie ein Boot; versucht man, den Becher darin schwimmen zu lassen, steckt er fest, das Wasser ist zu flach und das Boot zu groß. Ist der Wind nicht stark genug, kann er große Flügel nicht tragen. Daher: Erst wenn Peng neunzigtausend Li emporfliegt und den Wind unter sich hat, dann reitet er auf dem Wind, trägt den blauen Himmel auf seinem Rücken, und nichts steht ihm im Weg, und dann erst fasst er den Süden ins Auge.
Eine Zikade und ein Täubchen lachen darüber und sagen: »Wenn wir uns aufraffen zu fliegen, dann landen wir auf den Zweigen einer Ulme oder eines Sandelholzbaums; manchmal, wenn wir sie nicht erreichen, purzeln wir auf die Erde, und das war’s. Wozu neunzigtausend Li in die Höhe aufsteigen und nach Süden ziehen?«
Wer ins üppige Grün hinausgeht, findet seine drei Mahlzeiten; wenn er zurückkehrt, ist der Bauch gefüllt wie zuvor. Wer hundert Li hinausgeht, stampft in der Nacht zuvor Körner, um sich zu verpflegen. Wer tausend Li hinauszieht, sammelt drei Monate zuvor Getreide als Verpflegung.
Was wissen diese beiden Wichte schon! Wenig Wissen reicht an großes Wissen nicht heran; wenige Jahre reichen nicht an viele Jahre heran. Woher weiß ich, dass es so ist? Ein Pilz [der morgens sprießt und abends welkt] weiß nichts vom Wechsel zwischen Tag und Nacht. Eine Zikade [die nur im Sommer lebt] weiß nichts von Frühling und Herbst. Beide leben zu kurz.
Im Süden von Chu lebte ein Geist der Unterwelt, für den fünfhundert Jahre ein Frühling und fünfhundert Jahre ein Herbst waren. In der Urzeit gab es einen großen Götterbaum, für den achttausend Jahre ein Frühling waren und achttausend Jahre ein Herbst. Aber heutzutage rühmt man [den achthundertjährigen] Urahn Peng Zu schon als langlebig. Alle Welt eifert ihm nach – ist das nicht traurig?
In den Fragen von [König] Tang an [Minister] Ji finden wir letztlich dasselbe: »Im kargen Norden gibt es ein dunkles Meer, das See des Himmels genannt wird. Dort lebt ein Fisch, der mehrere tausend Li lang ist, doch niemand weiß, wie groß er ist. Sein Name ist Kun. Außerdem lebt dort ein Vogel namens Peng; sein Rücken gleicht dem Taishan-Gebirge, seine Flügel sind groß wie Wolken am Himmel; mit dem Wirbelwind steigt er [auf einer Spiralbahn] wie ein Schafshorn neunzigtausend Li in die Höhe, durchschneidet Wolken und Dunst und schultert den blauen Himmel. Dann erst fasst er den Süden ins Auge und zieht zum Südmeer.«
Ein Sperling lacht darüber und spricht: »Wohin zieht es ihn? Ich hüpfe herum und steige nicht mehr als ein paar Meter auf, dann lande ich wieder unten. Im Gebüsch und in den Hecken herumzuflattern, das ist doch die schönste Art zu fliegen. Und wohin zieht es ihn?«
Das ist der Unterschied zwischen klein und groß.
Daher: Wer das Wissen hat, um ein Amt auszuüben, wer mit seinem Verhalten Vorbild für ein Dorf ist, wer die Wirkkraft eines Edelmannes besitzt, wer die Fähigkeit hat, berufen zu werden vom Staat – der betrachtet sich genauso selbstbezogen wie der kleine Sperling. Und Meister Songrong hätte darüber verächtlich gelacht. Auch wenn ihn alle Welt lobte, er verausgabte sich deswegen nicht; auch wenn alle Welt ihn tadelte, er verlor deswegen nicht den Mut; klar unterschied er zwischen innen und außen; scharfsichtig erkannte er die Grenze zwischen Ruhm und Schande – das war alles. Sein Platz in der Welt zählte für ihn nicht. Und so scheint es, als hätte er nichts erreicht.
Liezi ritt auf dem Wind, wie kühl und angenehm bewegte er sich fort; nach 15 Tagen kehrte er zurück. Dem Glück nachzujagen, zählte für ihn nicht. Obwohl er sich ohne Anstrengung fortbewegte, gab es etwas, wovon er abhängig war. Wer die Gesetze von Himmel und Erde [vor seinen Wagen] zu spannen und die Wandlungsphasen der sechs Lebensgeister zu lenken versteht, um im Grenzenlosen umherzustreifen, wovon sollte er noch abhängig sein?
Daher heißt es: Der vollkommene Mensch befreit sich vom Selbst, der geistige Mensch bleibt ohne Verdienst, der weise Mensch strebt nicht nach Ruhm.
Guo Xiang beschrieb anhand dieser Passage, was »Natürlichkeit« bedeutet: »What is spontaneously so, not made to be so, is the natural …« (Guo Xiang / Feng Youlan, S. 30) 至人 (zhì rén), 神人 (shén rén), 聖人 (shèng rén) meinen all diejenigen Menschen, die eins mit der Natur werden – es gibt keinen eigentlichen Unterschied zwischen ihnen. Die unterschiedlichen Bezeichnungen haben nur rhetorische Bewandtnis. Feng Youlan (ebd., S. 31) subsumiert sie unter der Bezeichnung »the independent man«.
[König] Yao wollte [dem Einsiedler] Xu You (Ehrbar) das Königreich abtreten und sprach: »Wenn Sonne oder Mond aufgegangen sind und die Fackel noch nicht ausgelöscht wurde, verschwendet sie dann nicht ihr Licht? Wenn es regnet, die Felder zu bewässern, ist das nicht nutzlose Plackerei? Würdest du, Meister, die Herrschaft ausüben, würde sich unterm Himmel alles ordnen. Aber noch sitze ich wie ein Urahn auf dem Thron und sehe doch selbst, wie ungeeignet ich dafür bin – ich bitte dich, nimm dich des Reiches an.«
Читать дальше