Aus dem kleinen Souvenirshop am Eck kommt die Inhaberin. Ihr Blick schweift kurz von der Stadtaktivistin zu mir und wieder zurück. Ihr Kopf schießt vor wie bei einem Falken im Sturzflug, der Körper folgt langsamer nach. Ihre Beute: die Aktivistin.
Ich greife nach meiner Wasserflasche, trinke einen Schluck und beobachte neugierig, was da passiert.
»Können Sie nicht woanders stehen?«, keift sie die Aktivistin an.
Leben kommt in die junge Frau. »Ich stehe, wo ich will.«
»Ja, aber nicht hier!«
»Wie gesagt, wo ich will.«
»Zeigen Sie mir Ihre Genehmigung!« Der Kopf der Geschäftsinhaberin ruckt vor und zurück. Auf ihrem Hals haben sich rote Flecken gebildet. Andere Geschäftsleute schauen neugierig aus ihren Läden. »Die muss doch nicht immer nur uns das Geschäft vermasseln, oder?«, rechtfertigt sie sich ihren Kollegen gegenüber.
Zustimmendes Kopfnicken.
Nur die Inhaberin des Geschäfts für Haushaltswaren macht eine wegwerfende Handbewegung. »Geh, lass sie doch«, will das heißen, doch das Falkenweibchen fühlt sich von der Zustimmung der anderen beflügelt. »Also: Hopp, hopp! Weg hier! Es gibt auch noch andere Plätze in Brixen.«
Die Aktivistin verschränkt die Hände. »Aber bei keinem sonst müssen alle Tagestouristen vorbei.«
»Als ob Ihnen einer von denen seine Unterschrift auf diese lächerliche Liste setzen würde!«
Die beiden Frauen messen sich mit Blicken. Zwischen ihnen sprühen die Funken. Würde mir jetzt jemand eine Wette anbieten, ich würde auf die Geschäftsinhaberin setzen. Sie hat die unverhohlene Zustimmung der anderen Geschäftsleute. Aber die Außenseiterin gewinnt. Mit einem Wutschnauben dreht das Falkenweibchen ab und verschwindet in dem Geschäft für Souvenirs.
Die Siegerin bleibt mit einem triumphierenden Lächeln zurück. Als sie meinen Blick sieht, fragt sie: »Unterschrift?«
Ich hebe abwehrend die Hände. »Kann nicht schreiben.« Ich muss mein Image wahren. Mein abgeschlossenes Philosophiestudium geht sie nichts an. Außerdem will ich sehen, was passiert. Ich hab da nämlich einen Verdacht.
Die Aktivistin steht sich weiter die Beine in den Bauch.
Das Falkenweibchen wirft hin und wieder einen Blick durch die Scheibe ihres Schaufensters. Ich warte.
Ein junger Mann in Sandalen, der sich vor zehn Wochen das letzte Mal die Haare gewaschen hat, schmeißt seine Unterschrift auf das Klemmbrett der Aktivistin, dann versinkt sie wieder in ihrem Smartphone.
Als ich schon aufstehen will, schwingt die Tür des Haushaltswarengeschäfts auf, die Inhaberin wirft einen Blick in die Sonne, dann schaut sie zur Aktivistin. Dann zu mir. Langsam kommt sie auf uns zu. »Mögen Sie einen Kaffee?«
Es gibt halt doch noch Menschen. Sogar hier in Brixen. Ich wehre trotzdem ab. Kaffee bei der Hitze? Muss ich nicht haben.
Doch die Aktivistin nickt dankbar und dackelt hinter der netten Frau in das Innere des Geschäfts.
»Zeigen Sie mir Ihre Genehmigung«, gellt es da in meine Ohren. Das Falkenweibchen.
Ich weiß natürlich, wo ich den Wisch habe, suche aber trotzdem umständlich in allen meinen Manteltaschen. Die Sonne brennt auf uns herunter. Ich lasse einen lauten Furz entwischen. Grinse, als das Falkenweibchen empört das Gesicht verzieht. Das doppelte Erlebnis eben.
Ein paar Silberfüchse betreten den Souvenirladen, ich suche weiter. Als sie ihn wieder verlassen, ziehe ich den Zettel heraus. Mit unschuldigem Gesicht.
»Hmpf«, macht das Falkenweibchen, als es sieht, dass meine Genehmigung in Ordnung ist. Ich habe die amtliche Erlaubnis, auf der Bank zu sitzen und das Mitleid der Menschen auf mich zu lenken. »Hmpf«, macht sie noch einmal. »Können Sie nicht woanders rumlungern?«
Ein neuer Menschenstrom lenkt mich ab. Franzosen diesmal. Sich gegenseitig überschreiend, als gehöre das Städtchen ihnen, folgen sie einer Dame, die einen roten Regenschirm hoch in die Luft reckt und es tatsächlich schafft, ihre Erklärungen über dem Klangteppich schweben zu lassen. Einer von ihnen stößt meinen Rucksack im Vorübergehen um, brummt irgendwas von einem Clochard und geht ohne ein Wort weiter. Wie schon Tom Borg gesagt hat: eine Landplage …
»Wenn die Leute Sie sehen, kaufen sie nichts mehr«, zischt sie.
Mir fallen gleich zwei Antworten ein. »Dann bleiben zumindest ein paar Euro für mich« und »Den Müll, den du verkaufst, braucht eh kein Schwein.« Ich behalte beide für mich, mache dafür ebenso gekonnt »Hmpf« wie sie und verschweige ihr, dass soeben wieder zwei Silberfüchse ihren Kramladen voller Plüschmurmeltiere, Tiroler Schürzen und Wanderstabplaketten verlassen haben und vermutlich hundert Meter weiter in den nächsten Neppladen fallen. So gesehen hat sie recht.
Sie macht erneut »Hmpf« und ich frage mich, wie lange wir diese gehmpfte Unterhaltung wohl weiterführen könnten, bevor es seltsam wird.
Da verlässt die Inhaberin des Geschäfts für Haushaltswaren den Laden und geht eiligen Schritts Richtung Innenstadt. Die Stadtaktivistin hat ihren Kaffee wohl schon intus und für heute aufgegeben. Ich verlasse meinen Posten nicht. Nicht, als die Sonne untergeht. Nicht, als die Geschäfte schließen und nicht, als die Stadt immer leerer wird und irgendwann die Straßenlaternen ein feierliches Licht auf das dunkle Pflaster werfen. Heute bleibe ich hier. Ich knete mein Bündel zurecht und bette meinen Kopf darauf. Diese Bank tut es als Schlafplatz genauso gut wie eine Bank im Park.
Mitten in der Nacht trippeln sich leise Füße in meinen Traum, Krallen wetzen übers Pflaster. Ich will mich aufsetzen, wissen, was da um mich passiert. Aber ich sehe nichts. Meine Augen sind verklebt. Erfolglos rüttle ich an meinen Fesseln. Ein gellender Schrei ertönt hoch in der Luft. Ein Sausen wie eine Peitsche, die durch die Luft fährt. Dann hacken sich Krallen in mein Fleisch.
»Verschwinde, Drecksgesindel«, höre ich die Stimme des Falkenweibchens. Dann hackt ihr Schnabel wieder in mein Fleisch. »Verschwinde.« Hack. »Verschwinde.« Hack. Prometeus‘ Tochter.
»Betrunken«, höre ich eine Stimme. »Stockbesoffen«, eine andere.
Plötzlich ist das Falkenweibchen weg, keine Krallen haben sich in mein Fleisch gegraben, sondern Hände. Menschenhände. Freundliche Hände von Menschen, die sich sorgen.
Ich richte mich auf. »Schon gut«, sage ich. »Mir geht’s gut. Ich bin nicht besoffen. Nur eingeschlafen. Alles gut.«
Die Blicke, die die beiden Carabinieri wechseln, sagen, dass sie nichts gut finden. »Sie sollten hier nicht schlafen«, sagt der eine, der mich wachgerüttelt hat. Er hat ein klitzekleines Muttermal unterm linken Auge. Ein Fliegenschiss. »Haben Sie‘s nicht gehört?«
»Was gehört?«, frage ich.
»Dass Leute verschwinden in Brixen. Leute …« Er zögert, überwindet sich, fährt entschuldigend fort. »… wie Sie.«
»Gesindel«, sage ich, um zu signalisieren, dass ich verstanden habe. »Ich weiß. Deswegen bin ich hier.«
Sie wechseln wieder einen Blick. Die ist doch nicht ganz klar im Kopf, heißt der Blick. Sollen wir sie nicht doch besser mitnehmen aufs Revier? Vor allem der eine mit dem Muttermal zögert sichtlich.
»Es ist alles gut«, sage ich. »Glauben Sie mir. Alles gut. Und jetzt gehen Sie heim in Ihr weiches Bett. Ab hier übernehme ich.«
Am nächsten Tag ist es noch heißer als gestern. Zwischen den Mauern der mittelalterlichen Stadt staut sich die Hitze, man kann kaum atmen. Willi ist noch immer nicht aufgetaucht. Genauso wenig wie die Gosch-Tina und Gigi, der Präsident. Auch die Stadtaktivistin ist heute nicht mehr da. Ich vermute mal, dass der Grund nicht darin liegt, dass sie bereits Massen an Unterschriften hat, und überlege, ob ich ihr Verschwinden in meine Ermittlungen aufnehmen soll. Die im Übrigen bis jetzt erfolglos waren. Bis jetzt. Aber heute wird mein Tag. Ich spüre das. Auf dem kleinen Platz vor dem Kreuztor nur ich und der Straßenverkäufer der Zebrazeitung. Beide drücken wir uns in die winzigen Fleckchen Schatten. Ich auf meiner Bank vor der kleinen Kirche, er steht neben dem Schaufenster des Haushaltswarengeschäfts.
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