»Hau ab!«, rief sie und wedelte mit den Händen. »Verschwinde!« Der Rabe neigte den Kopf und sah sie mit schwarzen Augen durchdringend an. Jess erschauderte.
»Mara!« Jess sah den lila Fußring um den schwarzen Rabenfuß mit den spitzen Krallen. Ihre Katze miaute jämmerlich. Jess versuchte, sie zu erreichen, doch Riana war zu weit hinaufgeklettert. Jess breitete die Arme aus, um sie aufzufangen. Doch die Katze sprang nicht. Der Rabe hüpfte von seinem Platz am Wetterhahn auf den Mauervorsprung unter sich und ging auf die Katze zu. Die zog sich tiefer in den Spalt zurück. Jess setzte mit dem Mut der Verzweiflung einen Fuß auf die Absturzsicherung und einen Fuß gegen die Mauer. So stemmte sie sich Stück für Stück in die Höhe und erreichte endlich den Vorsprung, in dem ihre Riana sich in Sicherheit gebracht hatte. Mit ihrer gesunden Hand krallte sich Jess in die Wand, packte ihre Katze mit der anderen Hand am Genick und zog sie aus dem Versteck. Sie stand jetzt mit einem Fuß auf der obersten Stange der Absturzsicherung, mit den Fußspitzen des anderen Fußes in der Mauerfuge, klammerte sich mit den Fingern an der Mauer fest und hatte eine fauchende, panisch spuckende Katze in der anderen Hand. Schmerzen schossen wie Blitze von ihrem verletzten Finger bis in den Ellbogen. Sie sah über die Brüstung und erstarrte. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Keinen Zentimeter.
Auf diesen Moment schien Mara gewartet zu haben. Sie breitete ihre Schwingen aus, umkreiste den Wetterhahn und bohrte ihre ausgestreckten scharfen Klauen mit Wucht in Jesses Gesicht. Jess schrie auf, riss die Arme hoch, um sich vor Maras Angriff zu schützen, und stürzte in die Tiefe.
Harry hatte gerade die Schulklasse verabschiedet, als Mara auf seiner Schulter landete.
»Na, meine Schöne, wo warst du denn so lange?« Er strich ihr sanft über den kräftigen Schnabel. Dann holte er die kleine Tupperdose aus seiner Hosentasche, nahm einen mit Blut getränkten Hundekeks heraus und fütterte sie damit.
»Braver Vogel«, sagte er.
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ITALIEN, SÜDTIROL |
Heidi Troi Das schlechte Gewissen der Stadt
»Zu viel des Guten ist meist von übel.« Hat schon der gute alte Tom Borg gesagt. Wer Tom Borg ist? Keine Ahnung. Ein deutscher Autor, dessen schriftstellerische Tätigkeit sich auf das Kreieren mehr oder weniger brauchbarer Zitate konzentriert hat, von denen ich mir von Zeit zu Zeit eines aus›borge‹. Zum Beispiel das hier: »Mancher blöde Hund hat mehr Charakter als sein kluges Herrchen.« Kennen tu ich die Zitate auch von einem blöden Hund. Von meinem Freund, dem Willi. Der normalerweise immer mit mir auf dieser Bank vor der kleinen evangelischen Kirche in Brixen sitzt und der verschwunden ist. Spurlos. Nicht dass er sonst nie verschwunden wäre. Der Willi hat Hummeln im Hintern. Sagt er selbst immer. Aber bisher hat er es mir immer gesagt. »Dreckskathi«, hat er zu mir gesagt, »ich bin dann mal weg. Der Süden ruft.« Oder der Norden. Oder der Berg …
Und dann war er weg und ich hab den leeren Platz neben mir verteidigt, weil ich gewusst habe, dass er dann irgendwann wieder neben mir sitzen wird. Und jetzt ist er verschwunden. Ohne dass er mir was gesagt hat. Und ich hab ein ganz komisches Gefühl. Weil er nämlich nicht der Einzige ist, der verschwunden ist. Auch die Gosch-Tina ist seit Tagen nicht mehr in der Stadt gewesen, genauso wie der Präsident wie vom Erdboden verschluckt ist. Nicht ein richtiger Präsident, sondern Gigi, der stundenlang auf dem Platz steht und wirre Reden schwingt. Manchmal kommen da richtig gute Sachen. Manchmal halt auch nicht. Und der Willi, der ist jetzt auch fort. Ohne ein Wort. Und ich hab das Gefühl, dass das alles mit diesem Platz zusammenhängt. Mit dem kleinen Platz zwischen der evangelischen Kirche und dem Sonnentor, das eigentlich nicht Sonnentor, sondern Kreuztor heißt, und der eine heiß umkämpfte Zone unter uns, dem Abschaum von Brixen, ist.
Hier betreten die Tagestouristen zu Stoßzeiten in Prozessionen die Stadt und hier verlassen sie sie wieder. Davor sammeln sie die Souvenirs wie Profisportler die Trophäen – im Brotgeschäft die ›Brixner Nussen‹, in der Tabaktrafik Kühlschrankmagneten, im Haushaltswarengeschäft Trinkflaschen mit aufgedruckten Bergsprüchen oder ›Bergluft zum Mitnehmen‹. Danach kehren sie durch das alte Stadttor in ihre eigene Wirklichkeit zurück. Wieder durch das Tor zur Stadt Brixen, wo sie das doppelte Erlebnis genossen haben. ›Das doppelte Erlebnis.‹ Das ist der Werbeslogan des Stadtmarketings und wir Bettler schauen, dass die Touristen auch wirklich das doppelte Erlebnis haben. Dass sie nämlich neben dem ganzen Prunk und Kitsch, den unsere Stadt zu bieten hat, auch ein bisschen Armut sehen, Mitleid empfinden können, ihr Gutmenschentum herauskehren. Hier heben wir uns ab, hier stechen wir ins Auge. Und das ist unsere Marketingstrategie. War unsere Marketingstrategie. Von dem ganzen Gesocks bin nämlich nur noch ich übrig. Ich, die Dreckskathi. Und ich bin wild entschlossen, herauszufinden, was mit dem Willi geschehen ist. Und mit der Gosch-Tina und mit dem Präsidenten. Aber vor allem mit dem Willi.
»Städter, die aufs Land ziehen, sind manchmal eine rechte Landplage.« Der Spruch ist auch von Tom Borg. Der gefällt mir von all seinen dummen Sprüchen am besten und ich hab ihn für Brixen ein kleines bisschen umgewandelt. »Städte, die das ganze Land anziehen, haben manchmal eine ziemliche Landplage.« Ich schmunzle in meinen dreckstarrenden Rolli und wiederhole den Satz in Gedanken. Nichts könnte besser auf die Brixner zutreffen als dieses abgekupferte Zitat von Tom Borg.
Grade eben zieht wieder so eine zweibeinige Schafsherde durch das Kreuztor. Silberfüchse in Gesundheitsschuhen und den Klamotten aus Ottos Katalog, in der rechten Hand sich an den Gehstock klammernd, in der linken Hand einen Fotoapparat. Sie nähern sich. Die Ersten bemerken mich. Ich setze meine weinselige Miene auf, strecke die Hand aus, lalle etwas von wegen »schöne blonde Maid«, obwohl jede von ihnen das letzte Mal allerhöchstens vor dreißig Jahren blond war, notiere ihre angeekelten Gesichter.
Eine von ihnen drückt mir doch einen Euro in die Hand. »Aber nicht gleich in Alkohol investieren, junge Frau«, sagt sie, Augenbrauen tadelnd hochgezogen.
»Ich sag danke, für dein Verständnis jeden Tag«, intoniere ich eine Freddy-Quinn-Schnulze, absichtlich die Töne verfehlend, nehme innerlich grinsend ihren Abscheu zur Kenntnis und lasse den Euro in meiner Manteltasche verschwinden.
Ich seufze. Kurz überlege ich, das Geld zum Trotz in Alkohol zu investieren, lasse es dann aber bleiben. Bei der Hitze schmeckt der Fusel nicht. Mein Blick fällt auf die Stadtaktivistin, die seit ein paar Tagen mit einem Schild auf dem kleinen Platz auf und ab marschiert. »Besichtigungsgebühr für Tagestouristen« steht liebevoll darauf gemalt. Darunter ein Cartoon, der Touristen wie die Sardinen unter den Laubenbögen gestapelt darstellt, jämmerlich schwitzend und mit schmerzerfüllter Grimasse. Niemand bleibt bei der Stadtaktivistin stehen, traurig spielt sie auf ihrem Handy herum. Sie tut mir irgendwie leid. »Soll ich dich fotografieren?«, frage ich. Vielleicht will sie ja ihr Insta-Profil puschen oder wie die jungen Leute das sonst noch nennen. #stadtretten oder #wenigertouris oder so.
Sie rümpft die Nase. Der verächtliche Blick legt ihre Gedanken frei: Du Pennerin hast es doch nur auf mein iPhone abgesehen und wenn nicht, krieg ich den Gestank deiner versifften Hände nie mehr runter von dem Ding. »Nein … danke«, sagt sie.
Ich zucke die Achseln. Lehne mich zurück, freue mich über die Sonnenstrahlen, die mein Gesicht streicheln. Wer nicht will, der hat schon, denke ich. Könnte auch von Tom Borg sein, der Spruch. Ist er aber nicht.
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