Na gut. Flemming und Marianne führten also noch immer ihre langen Gespräche – ohne Dan. Er musste aufstehen, um sich die Eifersuchtswelle nicht anmerken zu lassen, die seinen Brustkasten schmerzen ließ. »Ich muss mal pinkeln«, sagte er und verschwand, bevor sie etwas sagen konnte. Dans Jugendfreund, Flemming Torp, war mit Marianne zusammen gewesen, bevor sie und Dan sich vor bald fünfundzwanzig Jahren so stürmisch verliebt hatten, dass es in Wahrheit niemals um eine reelle Wahl gegangen war. Das Unglaubliche an dieser Geschichte war, Dans und Flemmings Freundschaft hatte nicht nur diese heftige Probe überstanden, sondern ihr Leben lang gehalten: in der Zeit, als Flemming auf die Polizeischule ging und Dan sich seine ersten Sporen in der Werbung verdiente; in den vielen Jahren, in denen Flemming mit Karin verheiratet gewesen war; in Urlauben, wo die beiden Familien mit ihren kleinen Kindern ganz Nordeuropa bereist hatten; in der Zeit von Flemmings und Karins Scheidung vor einem Jahr. Zu Karin hatten sie den Kontakt verloren, als sie zu ihrem neuen Mann in Hvidovre zog, aber Flemming war noch immer ein fester Bestandteil ihres Lebens, ein loyaler und hilfsbereiter Freund.
Das Problem bestand darin, dass Dan in den letzten Jahren die zwanghafte Idee entwickelt hatte, seine Frau und sein bester Freund könnten eine Affäre haben. Kindisch, aber so war es. Eigentlich müsste Flemming eifersüchtig sein, denn schließlich hatte er damals Marianne verloren. Er hatte sich mit der Nächstbesten begnügen müssen und keine sonderlich glückliche Ehe geführt. Offensichtlich fühlte er sich in seinem hässlichen Reihenhaus einsam und vergrub sich in seine Arbeit als Kommissar bei der Polizei von Christianssund. Flemming hatte allen Grund, seinen charismatischen Freund zu beneiden. Aber nicht er war eifersüchtig. Sondern Dan. Und Dan musste all seine Kraft aufbieten, um dieses Gefühl zu unterdrücken. Er wusste genau, wie pathetisch das war. In seinen rationaleren Momenten – neunzig Prozent seiner Zeit – war ihm schon klar, dass es zwischen Flemming und Marianne nicht zu einer einzigen unpassenden Berührung gekommen war, seit sie ihren netten, realen Liebsten damals in den Achtzigern gegen sein attraktives Arschloch von Freund getauscht hatte.
Denn ein Arschloch war Dan damals gewesen. Eine Sache war seine Arbeitswut und Kontrollsucht, die dazu führte, dass er oft für längere Zeit nicht nach Hause kam. Eine andere sein Verbrauch an Kokain und Tequila. Beides gehörte damals in gewisser Weise zur Werbebranche wie das Rauchen von Zigarren und überdimensionierte Schulterpolster im Kopenhagener Nachtleben. Noch schlimmer war, dass Dan seine Frau in diesen Jahren systematisch mit einer topgestylten Werbetussi nach der anderen betrog. Es war erbärmlich. Tatsächlich trieb er es so schlimm, dass er schließlich bereit war, mit der ganzen Familie in seine Heimatstadt Christianssund zu ziehen, um sein unwürdiges Verhalten zu beenden. Hier waren die Verlockungen nicht so groß, und allein die Größe der Stadt ließ ihn zweimal überlegen, ob er sich auf eine neue Mediengrafikpraktikantin stürzen sollte oder nicht.
Die Strategie hatte funktioniert. Dan war nur noch selten schwach geworden, das letzte Mal lag schon viele Jahre zurück. Allerdings hatte er parallel zur Einstellung seines Drogenkonsums und zur Neuordnung seines Sexuallebens diese Zwangsvorstellung entwickelt, die mit den Jahren immer größer und quälender geworden war. Manchmal wachte er nachts schwitzend vor Panik auf. Als hätte sein schwarzes Gewissen sich diese maßgeschneiderte Strafe ausgedacht und gäbe sich alle Mühe, sie mit den Jahren auszubauen und zu verfeinern. Als Dan vor einem halben Jahr mit einer heftigen Depression aus der Bahn geworfen wurde, war eine Erklärung sein anstrengender Job als Kreativdirektor einer Werbeagentur gewesen, denn als leitender Angestellter war er im Grunde ungeeignet. Dieses Problem war gelöst. Er hatte in der Agentur gekündigt und sich selbstständig gemacht. Er hatte keinerlei Verantwortung mehr für Untergebene.
Eine andere und eher versteckte Ursache des Zusammenbruchs war sein Schamgefühl wegen der jahrelangen Untreue gewesen, kombiniert mit der Zwangsvorstellung, Marianne wolle ihn wegen Flemming verlassen. Ein rationalerer Mensch hätte diesen Teil des Problems natürlich mit seinem Ehepartner besprochen – oder zumindest mit seinem Therapeuten –, Dan dagegen hatte ein für alle Mal beschlossen, Marianne solle in diesen, den verräterischsten Teil seiner Persönlichkeit niemals Einblick erhalten. Also schlug er sich im Stillen mit seinen Gespenstern herum und entzog sich, wenn jemand ihm zu nahe kam. Wie jetzt, als er das Büro so abrupt verlassen hatte. Er wusch sich ausgiebig die Hände, bis er spürte, dass seine Atmung sich normalisiert hatte, holte zwei kalte Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und ging zurück in sein kleines Arbeitszimmer, wo Marianne noch immer das Foto von Jakobs nacktem Rücken betrachtete.
»Weißt du, was man machen könnte?«, sagte sie, als hätte sie die Unterbrechung überhaupt nicht bemerkt.
Dan zog seinen Bürostuhl an den Sessel und steckte die Füße unter ihre Decke. »Nein, meine Liebe. Erzähl!« Er reichte ihr die beschlagene Bierflasche, sie nahm sie mit abwesender Miene entgegen. »Skål.«
Sie tranken. Marianne stellte die Flasche auf den Boden und trocknete ihre Hand an der Bettdecke ab. »Diese ganze Affäre mit Jakob und Ursula? Sie hat sich doch vom Anfang bis zum Ende auf dem Internat abgespielt, oder?«
»Ja?« Dan genoss die Wärme ihres Oberschenkels an seinen Füßen.
»Du nimmst aber auch Platz weg, Mann!« Sie rutschte ungeduldig auf dem Sessel herum. »Also gut, die meiste Zeit waren sie natürlich allein, doch in einem Internat ist es unmöglich, sich vollständig zu isolieren, egal wie verliebt man ist.« Dan nickte. »Die beiden mussten sich unter die anderen mischen, wenn sie aßen, wenn gefeiert oder unten am Feuerplatz gegrillt wurde.«
»Woher willst du wissen, dass Jakob überall teilgenommen hat?«
»Wie sollte Laura sonst zu ihrer Meinung über ihn kommen? Die Jugendlichen haben ihn gesehen, er war Teil ihres Alltags, in größeren oder kleineren Portionen.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Was hat jeder Teenager ständig bei sich?«
Er musste nicht lange nachdenken. »Ein Handy.«
»Genau. Eher vergessen sie ihr Geld, die Monatskarte oder ihre Jacke als ihr Telefon. Das ist ihre Sicherheitsleine, ihr ständiger Draht zu allen, mit denen sie in Kontakt bleiben wollen. Und oft genug sind dabei auch MP3-Player und der Internet-Zugang wichtige zusätzliche Werkzeuge. Außerdem benutzen sie es als Tagebuch.«
»Sie machen sich damit Notizen? Benutzen das Diktafon? Oh«, sagte Dan, als er endlich kapierte. »Die Kamera.« Natürlich. Die meisten Mobiltelefone hatten inzwischen ziemlich gute Kameras, und sie wurden benutzt. Junge Menschen schickten sich unablässig Schnappschüsse und kleine Videofilme, es gab so gut wie keine Situation, die zu banal war, um nicht verewigt und vielleicht sogar auf dem Computer abgespeichert zu werden. Dan zog die Füße zurück und rollte auf seinem Bürostuhl zurück an den Schreibtisch. »Du hast vollkommen recht.« Er öffnete sein Mailprogramm und fing an zu schreiben. »Nicht einmal eine kamerascheue Person wie Jakob würde dem unbändigen Drang von neunzig Internatsschülerinnen und -schülern entgehen können, alles um sich herum zu dokumentieren«, sagte er und klapperte weiter.
»Schreibst du Laura?«
»Hmm …«
»Bittest du sie, die anderen zu fragen?«
Dan las die wenigen Zeilen noch einmal und drückte dann auf den ›Senden‹-Button. »Zunächst habe ich sie gebeten, ihr eigenes Handy und die ihrer engsten Freundinnen zu checken. Wenn sich dabei keine brauchbaren Fotos finden, müssen wir den Radius erweitern.«
Читать дальше