»Soll ich Sie nach Hause bringen?« fragte er stattdessen und wunderte sich selbst über den festen Klang seiner Stimme. Dann ließ er eilig ihren Arm los.
Die Frau starrte ihn an. Er konnte nicht genau sagen, ob es eher überrascht oder entsetzt war. Er hoffte auf Ersteres. Da fiel ihm auf, dass er noch nicht einmal ihren Namen kannte. Er selbst hatte sich zwar vorgestellt, aber das war eher beruflich gewesen. Wenn er ihr schon anbot, sie nach Hause zu fahren, sollte er sich zumindest noch einmal offiziell bei ihr vorstellen. So viel also zu seiner guten Erziehung und den sozialen Kontakten. »Ich bin Christian.« Er unterließ es wohlweislich ihr seine Hand entgegenzustrecken.
»Ich weiß.« erwiderte die Unbekannte. »Ich bin Julia. Julia Hanson.« Dann lächelte sie und er wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte.
»Danke, aber ich werde die Straßenbahn nehmen.« Sie schwang sich ihre Tasche über die Schulter und wandte sich zum Gehen. Christian runzelte die Stirn. Dann warf er einen kurzen Blick auf seine Uhr. Eine dunkelblaue Rolex, die er sich letztes Jahr zu Weihnachten gegönnt hatte.
»Es ist nach 23:00 Uhr.« wies er sie dann so sanft wie möglich hin. Die Straßenbahnhaltestellte die dem Krankenhaus am Nächsten war, wäre immer noch mindestens zwei Kilometer entfernt und der Bus der die Strecke überbrückte fuhr nur bis 22:00 Uhr.
»Oh,« Julias Augen weiteten sich und sie biss sich leicht auf die Unterlippe. Eine Geste, die wahrscheinlich total unabsichtlich war, aber dennoch total erotisch wirkte. »Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«
»Soll ich Sie nicht doch fahren?« Christian versuchte die Anziehungskraft dieser Frau zu ignorieren. Es war spät und er hatte einen höllischen Tag hinter sich. Er konnte es jetzt nicht gebrauchen auch noch eine Nacht zu erleben, in der er aus diversen anderen
Gründen keinen Schlaf fand.
»Ich möchte keine Umstände machen. Ich werde einfach zu Fuß gehen, das ist schon in Ordnung. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und nochmals danke für das Angebot.« Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und steuerte Richtung Ausgang. Verdutzt sah Christian ihr nach. Es war vermutlich das Beste. Er sollte sie einfach gehen lassen. Nur irgendwie konnte er das nicht. Und noch ehe er es sich anders überlegen konnte, lief er ihr hastig hinterher. »Warten Sie!«
Zögernd drehte sie sich noch einmal um. »Hören Sie,« fing sie dann an. »Das ist wirklich nett gemeint, aber …«
»Ich werde Sie fahren.« Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. »Meine Schicht ist ohnehin zu Ende.«
Zu müde um weiter zu diskutieren und insgeheim froh darüber, nicht mehr zwei Kilometer alleine durch Hamburg laufen zu müssen, nickte Julia ergeben. »Also gut.«
Als sie wenig später auf dem Beifahrersitz des BMW von Christian saß musste sie sich widerwillig eingestehen, dass es kein Entkommen mehr gab. Nun würde er mit eigenen Augen sehen in welcher Gegend sie wohnte und dann wäre es ohnehin gleichgültig, was sie über ihn dachte oder ob er ihr gefiel. Was er durchaus tat. Auch wenn er hier und da vielleicht etwas steif wirkte. Wahrscheinlich würde er sich dann nicht einmal mehr mit ihr unterhalten. Es sollte ihr nichts ausmachen. Tat es aber.
Sie drehte den Kopf zur Seite und starrte in das Dunkel der Nacht.
Dieser Tag hatte wirklich alles ausgeschöpft was sie verkraften konnte. Erst Hannah, dann die Nachricht das Max im Koma lag und zu allem Übel bekam sie bei einem der angesehensten Chirurgen der Stadt, der noch dazu aus einer der reichsten Familien Hamburgs stammte, Schmetterlinge im Bauch. Na prima! Da gab es seit fast zwei Jahren keinen Mann mehr der sie interessierte und dann passierte es ausgerechnet bei einem, der so gar nicht in ihrer Liga spielte.
»Da vorne rechts.« erklärte sie ihm den Weg zu ihrem, im Gegensatz zu seinem, ärmlichen Viertel. »Sie können mich da vorne an der Ampel raus lassen.« hoffte sie mit einem letzten Versuch, das Schlimmste noch einmal abzuwenden in dem er nicht in die direkte Straße einbog in der es nur so von heruntergekommen Mietswohnungen wimmelte. Der Anblick alleine würde sicher jeden in die Flucht schlagen. Sie selbst würde nur zu gerne von dort weg. Aber mit ihrem Gehalt als Kellnerin konnte sie das nicht. Zumal sie jeden einzelnen Cent für die Kosmetikschule sparte. Und da ihre Mutter momentan als einzige den Lebensunterhalt für sich und ihren Vater bestritt, während dieser sich von Arbeitslosengeld II und jeder Menge Bier ernährte, war eine bessere Wohnung eben nicht drin.
»Ich habe gesagt ich bringe Sie nach Hause, also werde ich das auch tun.« erwiderte der Arzt.
Julia rutschte ein Stück tiefer in den Ledersitz und ergab sich ihrem Schicksal.
Als Christian in dem alten Hinterhof hielt, der neben sechs Müllcontainern, ein paar vergammelten Garagen und der abblätternden Fassade des Gebäudes nicht viel auszuweisen hatte, schnallte Julia sich ab. Sie wagte es nicht den Mann neben ihr anzusehen. »Danke.« brachte sie nur mühsam heraus und öffnete die Tür. Es war demütigend und sie wollte nur nach Hause. Auch wenn dieses zu Hause nicht unbedingt der schönste Ort war, an den sie flüchten konnte.
»Hey.« Sie spürte das Kribbeln, noch bevor Christians Arm ihren berührte. »Ich würde Sie gerne wiedersehen.« Worte die er zwar ernst meinte, aber eigentlich nicht so unverblümt aussprechen wollte. Jetzt war es passiert und er konnte sie ohnehin nicht mehr zurücknehmen.
Trotz aller guten Vorsätze drehte sich Julia nun doch zu ihm um und starrte ihn entgeistert an. Er wollte sie wiedersehen? Nach allem was er gerade sah? »Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist.« Es konnte keine sein. Auch wenn sie es zu gern wollte.
Da tat Christian etwas, womit sie nun wirklich nicht gerechnet hätte. Der bis eben noch so steif und sachlich wirkende Oberarzt zeigte seine mehr als anziehenden Grübchen und grinste sie an. »Ich denke das kommt auf einen Versuch an. Ich hole Sie morgen um 19:00 Uhr ab. Seien Sie pünktlich.« Um eine Widerrede auszuschließen überraschte er sie ein zweites Mal als er ihr einen zarten Kuss auf die Wange gab, bevor er sie dann sanft aus dem Wagen schob, die Wagentür zu zog und sie mit dieser Geste einfach so stehen ließ.
Kaltes Wasser brauste über seinen Körper als er versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Als er diese Aufgabe übernommen hatte, hatte er nicht gewusst, dass er es mit einer Frau zu tun haben würde, die nicht nur hübsch, sondern auch klug und willensstark war. Die meisten Menschen die er beschützen musste, waren verängstigt und nur zu gern bereit immer an seiner Seite zu bleiben.
Ganz im Gegensatz zu der Person die mit ihm in diesem Haus war.
Hannah war ganz und gar nicht gewillt sich in seine Obhut zu geben. Im Gegenteil. Eigentlich hatte sie klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie unter keinen Umständen von hier fort gehen würde.
Nun, diese Diskussion war noch nicht beendet. Er hatte nicht die Absicht Hannah zurückzulassen. Natürlich hatte sie recht. Zwingen konnten sie sie nicht. Wahrscheinlich müsste er sie tatsächlich mit Gewalt in sein Auto zerren. Irgendwie gefiel ihm die Vorstellung.
Trotz der Tatsache, dass er seine Aufgabe schnell und gut erfüllen wollte, konnte er aber auch Hannah verstehen. Sie war nicht dumm. Sie wusste, dass ihr Bruder nicht mitkommen würde, auch wenn man ihr versucht hatte, etwas anderes einzureden. Man würde ihn vermutlich genau in die entgegengesetzte Richtung bringen, soweit weg von ihr wie möglich um die Gefahr zu verringern, dass einer von ihnen entdeckt wurde. So war es immer.
Читать дальше