»Was spielt das denn für eine Rolle? Ich werde nicht mitkommen. Ich verzichte auf einen Aufpasser.« Noch bevor sie die Worte fertig gesprochen hatte, wusste sie, dass es vermutlich nicht so einfach sein würde. Aber man durfte ja wohl noch hoffen.
Toms Miene blieb unergründlich. »Du denkst also, dass es so einfach ist, ja?« Dieser Kerl machte sie wahnsinnig. Was spielte es für eine Rolle was sie dachte? »Hör zu. Ich weiß, dass es dein Job ist, aber ich lasse mich nicht von hier fortbringen. Schon gar nicht, während mein Bruder im Koma liegt.« Hannah lief an Tom vorbei, versuchte so gut wie möglich seinen maskulinen Duft zu ignorieren und setzte sich resigniert auf einen der freien Stühle. »Das meine ich ernst.«
Sie sah zu wie Tom sich den anderen Stuhl schnappte, diesen umdrehte, so dass das Rückenteil zwischen seinen Schenkeln war und gegenüber von ihr Platz nahm. Seine Arme legte er ebenso lässig, wie er sich eben auf den Stuhl gesetzt hatte, übereinandergeschlagen auf die Lehne. Noch immer sah er sie so eindringlich an, dass Hannah plötzlich weiche Knie bekam.
»Hannah«, begann er dann und seine Stimme klang nicht weniger entschlossen als ihre. »Ich werde mich nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, ob du mit kommst oder nicht. Diese Wahl hast du nicht.«
Er merkte, wie sich ihre vorhin noch so leuchtenden Augen zu zwei kleinen Schlitzen verengten, die ihn jetzt wütend anstarrten. »Das hier,« sie machte mit ihrem Zeigefinger eine kreisförmige Bewegung, »ist mein Leben. Meines. Ich glaube nicht, dass hier irgendjemand das Recht dazu hat, mir vorzuschreiben was ich tun muss.« zischte sie. »Wenn ihr mich von hier fortschleppen wollt, müsst ihr das schon mit Gewalt tun.«
Toms Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Das könnte durchaus interessant werden.«
Was ihm einen erneuten totbringenden Blick Hannahs einfuhr. »Das war keine Aufforderung.«
»Hörte sich aber so an.«
»Ich bin eine erwachsene Person. Ich habe Rechte. Glaubt bloß nicht, dass ich das nicht weiß.« fuhr sie ihn erbost an. »Niemand wird mich gegen meinen Willen irgendwo hinbringen. Auch nicht die Polizei.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch. Ich habe hier ein Leben. Mein Bruder hat hier ein Leben.« Sie schluckte. Zumindest hatte er es gehabt. Aber daran würde sie jetzt nicht denken. Max konnte jeden Augenblick wieder aufwachen. Daran musste sie festhalten. »Warum wollt ihr das wieder zerstören?« Sie klang resigniert.
»Weil du in Gefahr bist.« erwiderte Tom lapidar. Was Hannah offenbar komplett ignorierte. Oder nicht verstand. Wobei er persönlich eher auf ersteres tippte.
»Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Wir sind durchschnittlich drei mal in einem Jahr umgezogen. Manchmal sogar noch öfter. Die Gefahr war immer da. Und sie wird immer da sein. Egal wo ich bin.« Hannah nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche und legte es auf die Küchenablage. Drei Anrufe in Abwesenheit. Alle von Julia. Sie ignorierte sie. Sie wollte jetzt nicht mit irgendjemand reden. Auch nicht mit ihrer besten Freundin. »Warum also, kann ich dann nicht genauso gut hier bleiben?«
Tom antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Er würde sie von hier wegbringen, ob mit oder ohne ihrer Zustimmung. Eigentlich musste er ihren Standpunkt sogar bewundern. Auch wenn er letztendlich nichts änderte. Nun, dass würde sie schon noch früh genug merken.
Statt ihr also weiterhin einen Vortrag darüber zu halten, in welcher Gefahr sie schwebte, stand er wieder auf. Der geplante Aufbruch würde erst morgen Vormittag stattfinden, bis dahin würde er sie schon zur Vernunft bringen. Es wäre vermutlich klüger, sie vorerst in Sicherheit zu wiegen. »In Ordnung.« erwiderte er daher und stand auf.
»Wie in Ordnung?«
»Na in Ordnung eben.« Tom ging Richtung Tür. Dann drehte er sich noch einmal um. »Wir werden morgen in Ruhe darüber sprechen. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne duschen, bevor ich mich auf´s Ohr haue.« Als er bemerkte wie Hannah ihn verwirrt ansah, fügte er hinzu: »Ich bin zu deinem Schutz hier, also werde ich wohl auch hier schlafen. Und das steht nicht zur Diskussion.« Damit drehte er ihr den Rücken zu und marschierte aus dem Raum. Als die Tür hinter ihm zufiel konnte Hannah nichts anderes tun als fassungslos dazusitzen und sich zu fragen, warum um alles in der Welt ihr das Leben immer wieder aufs Neue solche Komplikationen bereitete.
Als Dr. Christian Kallert aus dem Operationssaal kam bemerkte er vor dem Eingang der Intensivstation noch immer jene blonde Frau, die ihn vorhin so fasziniert hatte. Er strich sich mit der Hand durch sein ebenfalls blondes Haar und drehte seinen Nacken einmal stark nach links, dann nach rechts. Seine Muskeln schmerzten und er war erschöpft. Er hatte wieder einmal eine fast vierzehn Stunden lange Schicht hinter sich. Aber er kannte es ja schließlich auch nicht anders. Sein Leben war der Beruf. Als Sohn jenes Mediziners, der bereits drei Kliniken aufgebaut und die Alsterklinik seit fast zwei Jahrzenten leitete, hatte er gar keine andere Wahl. Trotzdem wünschte er sich manchmal mehr. Nicht, dass es ihm prinzipiell an etwas fehlte. Er war in einem reichen Elternhaus aufgewachsen und besaß selbst mehr als genug Geld. Nur was seine sozialen Kontakte anging, beschränkten sich diese eher auf ein Minimum. Von Wohltätigkeitsveranstaltungen und Menschen, die immer nur irgendetwas von ihm wollten, einmal abgesehen. Es war nicht so, dass er diesen Lebensstil nicht hin und wieder genossen hätte. Schließlich lagen ihm dadurch auch die Frauen reihenweiße zu Füßen. Aber irgendwann verblasste auch bei zahlreichen Affären der Reiz und zurück blieb nichts außer der erbärmlichen Tatsache der körperlichen Befriedigung.
Er wollte gerade in Richtung seines Büros abbiegen, überlegte es sich dann aber doch anders und trat vor die hübsche Blondine.
»Guten Abend.« erwiderte er steif. Auch etwas woran er arbeiten müsste. Das normale Leben war nicht so förmlich. Menschen grüßten einander, erzählten sich Neuigkeiten und Dinge die sie erlebt hatten. Die meisten davon, würden sich vermutlich nicht nur für die neuesten Finanzanalysen am Kapitalmarkt oder die immer wieder schwankenden Aktienwerte interessieren. Weil es keine Rolle spielte. Nicht in einer Welt, die sozial genug war.
Der Kopf der Schönheit hob sich und sie sah ihn an. Sie wirkte genauso erschöpft wie er sich fühlte und ihre Augen musterten ihn argwöhnisch. »Hallo.«
Er erinnerte sich dunkel daran, dass er sie vor wenigen Stunden nicht gerade höflich behandelt hatte. Nun, daran ließ sich nichts mehr ändern.
»Was machen Sie noch hier?« fragte er daher möglichst um einen neutralen Ton bemüht. Was ihm offenbar nicht sonderlich gut gelungen war, denn sie zog ihre Augenbrauen zusammen und sah ihn dabei noch immer nicht gerade freundlich an. »Warum? Störe ich jemanden?«
Himmel, er vermasselte das wohl gerade so richtig. »Nein. Das war nur eine Frage.«
Die Frau vor ihm stützte ihre Arme auf den Stuhl, legte dann ihre Hände an die Wangen und stöhnte. Dann blickte sie wieder zu ihm auf. »Tut mir Leid. Ich weiß nicht wo mir gerade der Kopf steht.«
Christian stand noch immer bewegungslos vor ihr. »Kein Problem.«
»Ich sollte wohl wirklich besser gehen. Offenbar ist Hannah ja bereits gegangen.« Als sie aufstand fielen ihm ihre langen Beine auf und er rief sich in Erinnerung, dass er sich jetzt nicht auch noch dadurch in Verlegenheit bringen sollte, dass er sie anstarrte wie ein sexsüchtiger Trottel. Er trat einen Schritt zur Seite um sie vorbei zu lassen, dann besann er sich jedoch eines Besseren und griff nach ihrem Arm. In dem Moment, als er sie berührte, fühlte es sich an, als ob ein Stromschlag durch seinen Körper fuhr. Ihr schien es nicht viel anders zu gehen, denn sie drehte sich erschrocken zu ihm um. Ihre Blicke trafen sich und für einen kurzen Augenblick glaubte er, einen Hauch von Leidenschaft aufblitzen zu sehen. Was vermutlich nicht zutraf. Er war übermüdet, das war alles. Er sollte dringend nach Hause und ins Bett. Am besten schlief er die nächsten vierundzwanzig Stunden einfach durch.
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