Hannah merkte, wie ihr übel wurde. Sie hatte immer wissen wollen, warum ihr Leben so verkorkst war. Weshalb sie nie so sein konnte wie alle anderen.
Aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob es wirklich das Richtige war. Damals hatte sie sich einreden können, dass es nicht ihre Schuld war oder die ihrer Eltern, sondern ein schlimmer Wink des Schicksals, der sie in diese Situation gebracht hatte. Aber nun wusste sie es besser. Es war ihr eigener Vater, der dafür verantwortlich war. Tja, sie hatte es wissen wollten. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig als mit diesem Wissen zu leben.
Genauso wie sie sich zusammenreißen musste. Die Gründe änderten nichts an der Wahrheit. Und es gab immer noch eine Frage, die unbeantwortet war.
»Warum sind sie jetzt weg? Warum sind sie nicht mehr hier und wir schon?«
»Du musst mir glauben, dass ihnen diese Entscheidung nicht leicht gefallen ist. Aber wir hielten es für die einzige Möglichkeit euch zu schützen. Diese Organisation ist seit dem Zeitpunkt, an dem dein Vater sie verraten hat, hinter ihm her. All die Umzüge und die Kontaktverbote waren nur dafür da, keine Spuren zu hinterlassen. Diese Menschen sind verdammt gut darin, immer zu bekommen was sie wollen und haben ihre Finger überall. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie euch irgendwann finden würden. Wir haben daher beschlossen, dass es sicherer ist, wenn eure Eltern an einen anderen Ort gebracht werden. Wir dachten bislang eure Existenz wäre noch nicht aufgeflogen. Nun, wir haben uns offenbar geirrt.«
Hannah saß noch immer vor Herrn Wiesner, der Zeiger der Uhr ober ihm lief weiter, Sekunde für Sekunde strich vorüber, aber Hannah fühlte sich als wäre plötzlich alles stehen geblieben. Sie hörte die letzten Worte von Herrn Wiesner, hörte auch Schritte außerhalb des kleinen Büros und das Ticken der Uhr, aber irgendwie erschien das alles plötzlich so unendlich weit weg. Ihre Eltern lebten. Sie waren nicht tot. Und sie hatten sie mit voller Absicht im Stich gelassen.
»Wo sind sie? Meine Eltern? Sie sagten sie haben sie an einen sicheren Ort gebracht.« Sie wusste nicht wie, aber ihre Stimme klang gefasster als sie sich fühlte. »Und warum geirrt?«
»Das waren sie auch. Aber vor ein paar Tagen ist dieses Versteck aufgeflogen und sie haben deine Eltern fortgebracht.«
»Was heißt das fortgebracht? Was ist mit meinen Eltern?« Sie hatte gedacht, dass sie so schnell nichts mehr schockieren könnte, dass sie auf alles vorbereitet war, aber die bittere Realität belehrte sie mal wieder eines Besseren.
»Das wissen wir noch nicht. Unsere Ermittlungen dauern noch an, aber ich verspreche dir, wir tun alles in unserer Macht stehende um es heraus zu finden. Aber der Grund warum ich eigentlich hier bin, ist, um dir zu sagen, dass wir euch wegbringen müssen.«
»Nein.« Hannah sprang auf. Der Stuhl auf dem sie eben noch gesessen hatte, fiel mit einem dumpfen Krachen zu Boden. Wütend stemmte sie ihre Hände auf den Schreibtisch und funkelte den Mann ihr gegenüber an. »Das werde ich nicht zulassen. Nicht schon wieder.«
Ihr ganzer Körper zitterte als sie das ganze Ausmaß dieser Worte zu begreifen begann. Wieder sollte sie alles aufgeben, ihre Freunde, ihr zu Hause und ihre Arbeit. Nach all der Zeit die sie gebraucht hatte um endlich mit ihrem Leben klar zu kommen, sollte es ihr einfach so wieder weggenommen werden. Mit ein paar simplen Worten, die doch eine so große Bedeutung hatten.
»Hannah ihr seid in Gefahr. Wir gehen davon aus, dass dieser Anschlag an der Schule gezielt verübt wurde. Ich weiß, es ist schwer für dich zu begreifen, aber euer Leben hängt davon ab und ich werde kein weiteres Risiko mehr zulassen.« Sie hörte die Worte, klar und deutlich vernahm sie den Klang der Stimme des Kommissars, doch sie konnte und wollte es nicht wahrhaben. Es durfte nicht sein. Nicht schon wieder. »Nein.« wiederholte sie daher energisch.
»Du musst jetzt nach Hause gehen. Dort wird einer meiner Männer auf dich warten.« Herr Wiesner stand ebenfalls auf, lief um den kleinen Tisch herum und trat zu ihr. Dann legte er ihr die Arme auf die Schulter und drehte sie so, dass sie ihn anschauen musste.
Hannah versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. Sie wollte nichts mehr hören. Keine weiteren Erklärungen oder Vorschriften. Sie wusste wie das enden sollte. Aber sie war nicht gewillt, das zu akzeptieren. Dieses Mal nicht. All die Jahre hatte sie keine Chance gehabt, war einfach mitgezerrt worden, ob es ihr passte oder nicht. Jetzt war sie diejenige die Entscheidungen traf. Nicht mehr ihre Eltern. Und sie würde sich ganz bestimmt nicht schon wieder so aus ihrem Leben reißen lassen, als wäre es lediglich ein verdammtes Drehbuch, dass man je nach Belieben ändern konnte wie es einem gerade passte.
Entschlossen starrte sie Herrn Wiesner an. »Ich werde nicht verschwinden.« Sie machte erst einen, dann noch einen Schritt zurück. »Das meine ich ernst.«
»Hannah, du kannst nicht ändern was damals geschehen ist. »Abwehrend hob Herr Wiesner die Hände in die Luft während er um sie herum lief. »Aber du musst jetzt das Richtige tun.« Damit ging er zur Tür, öffnete sie und verschwand. Ließ sie allein, mit all den Informationen und Fragen die durch ihren Kopf rauschten, wie eine Flutwelle die einfach nicht verebben wollte. Hier stand sie nun, mit der Gewissheit, dass ihr Vater ein Krimineller war, der nicht nur sein eigenes, sondern das Leben von ihnen allen verpfuscht hatte und der erbitterten Tatsache, dass sich ihr so mühsam aufgebautes normales Leben erneut in Luft auflöste.
Sie musste hier raus. Aber was dann? Ihr Bruder lag hier und wo sollte sie hin? Zu Hause würde ein weiterer Agent auf sie warten, der sie von hier fortbringen wollte.
Sie hatte gar keine andere Alternative. Sie war gefangen in ihrer Vergangenheit und nichts und niemand konnte daran etwas ändern. Erneut sollte sie ihr altes Leben aufgeben und dem Weg folgen, den das Schicksal ihr vorgelegt hatte.
5. Kapitel
Als Undercover-Agent hatte er schon viele verschiedene Einsätze gehabt. Nicht selten an Orten, die man im normalen Leben eher nicht unbedingt freiwillig betreten würde. Die Einsätze waren oft sehr lang und eintönig, es gab Zeiten da war er monatelang immer nur am gleichen Ort mit den gleichen Menschen gewesen, hatte sein normales Leben vollkommen seinem, dem Einsatz erforderlichen, untergeordnet. Das war nicht immer leicht, aber bislang hatte ihn das nie besonders gestört. Er war gern ungebunden und frei und die Arbeit hatte ihn befriedigt und seine Vergangenheit vergessen lassen, zumindest konnte er sich das einreden. Auch jetzt, als er diese Art von Tätigkeit aufgegeben hatte und fast ausschließlich als Personenschützer arbeitete, befand er sich immer mit einem Schritt zu nah an der Zielscheibe. Aber das war es, was sein Leben ausmachte. Er kannte nichts anderes.
Nun sollte er für die Sicherheit von Hannah Christensen sorgen.
Es war Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet dieser Auftrag viel zu sehr mit seiner Vergangenheit kollidierte, ihn an Dinge erinnerte, die er am liebsten für immer vergessen würde. Aber so sehr er sich das auch wünschte, es ging nicht. Er hatte alles ausprobiert. Von Alkohol über Frauen bis hin zu seiner Arbeit. Nichts hatte geholfen. Es gab immer wieder Momente, da holte ihn seine Vergangenheit einfach ein und er konnte rein gar nichts dagegen tun.
Tom runzelte die Stirn als er eine aktuelle Aktennotiz las.
Er wusste, dass Hannah einen kleinen Bruder hatte, aber man sollte sich nur um sie kümmern. Von Max stand hier kein Sterbenswörtchen. Niemand war abgestellt worden, um ihren Bruder zu beschützen. Da er den Anschlag überlebt hatte befand er sich aber eigentlich genauso in Gefahr wie Hannah.
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