Aber wie viel Kraft hatte Hannah? Wie oft konnte sie dem Schicksal entgegentreten ohne zu zerbrechen? Das Leben war einfach nicht fair.
Frustriert lehnte Julia sich zurück. Dann ging die Tür eines der unzähligen Behandlungsräume auf und Hannah trat heraus. Ihr Gesicht wirkte blass und ihr Gang war noch etwas unsicher, aber ansonsten schien offenbar alles okay zu sein. Julia sprang eilig auf und lief auf sie zu. Direkt gefolgt von Tanja und Coco.
»Da bist du ja.« Sie drückte Hannah fest an sich. »Geht es dir gut?«
Die Angesprochene lächelte schwach. »Ja. Ja, mir geht es gut. Es war nur der Kreislauf.«
»Was um alles in der Welt ist denn nur passiert?« wollte Coco wissen. »Die sagen alle es hat eine Explosion gegeben?«
Hannahs Lächeln schwand. »Ja.«
»Ich verstehe das nicht. Die ganze Schule ist explodiert?« wiederholte Tanja noch immer fassungslos.
Hannah drehte den Kopf zur Seite und starrte ins Leere. »Es ist alles zerstört. Die Schule, der Eisplatz. Überall war nur Feuer und Schutt. Ich habe versucht Max zu finden. Dabei bin ich eingebrochen und habe wohl das Bewusstsein verloren.«
Hannah machte eine kurze Pause, dann sah sie mit Tränen in den Augen wieder ihre Freundinnen an. »Ich habe ihn nicht gefunden.« Die Erinnerungen holten sie ein. Ob sie es wollte oder nicht erschienen ihr wieder die enormen Flammen und die endlose Zerstörung. Und irgendwo dort draußen war Max. Alleine und hilflos.
Sie hatte ihn im Stich gelassen. Es war ihre Schuld. Sie war seine Schwester und nicht rechtzeitig da gewesen. Ihre Beine gaben nach und sie stützte sich auf eine der Stuhllehnen. Sie spürte, dass ihr jemand eine Hand auf die Schulter legte und sanft darüber streichelte. »Vielleicht war er gar nicht mehr da,« hörte sie Julia sagen. Sie sprach leise. Sanft. »Er könnte sich schon auf den Weg nach Hause gemacht haben.« Worte, die Hoffnung machen sollten. Ihr diese schlimmen Schuldgefühle und diese erbärmliche Angst nehmen sollten. Aber das konnten sie nicht. Max wartete immer. Weil er dazu erzogen worden war. »Hast du ihn schon angerufen?«
Hannah nickte schwach. »Mein Handy ist heute früh ins Wasser gefallen und funktioniert noch nicht. Aber ich habe vorhin vom Krankenhaus versucht ihn zu erreichen. Sein Handy ist aus.« Sie sah verzweifelt in die Runde. »Ich muss ihn finden. Er ist alles was ich noch habe.«
Sechs tröstende Arme umfingen sie. »Das werden wir. Versprochen.«
Die Frage war nur, ob lebend oder tot.
»Frau Bender?« Hannah drehte sich um. Eine Krankenschwester kam auf sie zu. Wie sehr sie diesen Namen hasste. »Ja.«
»Es tut mir leid wenn ich störe, aber wir haben gerade einen kleinen Jungen hereinbekommen und auf dem Rucksack den man bei ihm gefunden hat steht Max Bender. Ich dachte, er könnte vielleicht mit Ihnen verwandt sein.«
Max war nun schon mehr als drei Stunden im OP, was nie ein gutes Zeichen war.
Hannah wusste nicht, ob sie erleichtert sein oder vollkommen in Panik ausbrechen sollte. Sie hatten ihn gefunden. Er lebte, aber niemand hatte ihr sagen können, wie schlimm es um ihn stand. Und diese Ungewissheit machte sie verrückt.
Julia und Tanja saßen neben ihr. Coco lief ungeduldig den schmalen Gang auf und ab. Freundinnen, dachte Hannah. Auch wenn sie an Situationen nichts ändern konnten, so waren sie dennoch da und machten sie, zumindest meistens, etwas erträglicher. Niemand konnte die Zeit zurückdrehen oder etwas Geschehenes ungeschehen machen. Aber man konnte dafür sorgen, dass man nicht alleine war. Es hatte lange Zeit gedauert bis Hannah das begriffen hatte. So viele Jahre waren vergangen, in denen niemand anders als ihre Familie ihr Halt geben konnte. Und dann waren auch ihre Eltern plötzlich fort gewesen. Ihr Bruder war zu jung um das Ganze zu verstehen. Was ihr blieb, waren lediglich die Erinnerungen. Erinnerungen an ein gutes, wenn auch nicht perfektes Leben.
Aber mit der Zeit, verblassten auch diese und zurück blieb nichts, außer der kläglichen Hoffnung, irgendwann ihre Vergangenheit hinter sich lassen und ihr Leben wieder ordnen zu können.
Erneut spürte Hannah eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich danach um. »Es wird alles wieder gut.« hörte sie Julia sagen. Ihre Stimme klang immer noch zuversichtlich und aufmunternd. Es fühlte sich so leicht an daran zu glauben. Nur hatte sie vor Jahren aufgegeben, das zu tun. Glauben half niemand. Das zumindest war die bittere Erkenntnis, die sie in ihrem Leben lernen musste. Wie oft hatte sie das getan? Wie oft gebetet, dass alles gut werden würde? Sie hatte nie etwas Falsches oder Schlimmes getan. Aber was hatte es geholfen? Nichts. Denn sonst würde sie nicht hier stehen, ohne ihre Familie, ohne richtige Zukunft und der bitteren Angst auch noch ihren Bruder zu verlieren.
Das Schicksal machte was es wollte. Entweder man kam damit klar oder eben nicht.
»Frau Bender?« Als sie dieses Mal aufsah, blickte sie in das Gesicht eines jungen Arztes, dessen weißer Kittel einige Blutspritzer aufwies. Max Blut. Sie versuchte sich einzureden, dass das nichts zu sagen hatte, schließlich hatten sie ihn operiert und aufgeschnitten. Aber so richtig wollte es ihr nicht gelingen.
Der Mann zog sich seine Handschuhe aus und schob sie in eine Seitentasche seines Umhangs, dann streckte er ihr die Hand entgegen. »Mein Name ist Dr. Christian Kallert. Ich habe ihren Bruder operiert.« Er sah von ihr zu den drei anderen Frauen die sich sofort zu Hannah gesellt hatten und ihn nun ebenfalls unverwandt und besorgt anstarrten.
Zitternd ergriff Hannah seine Hand und schüttelte sie. »Was ist mit ihm? Geht es ihm gut? Kann ich zu ihm?«
Julia trat dicht neben Hannah und musterte den Mann. Er hatte dunkelblondes, festes Haar, tiefblaue Augen und ein ziemlich attraktives Gesicht, wenn gleich es auch gerade nicht sonderlich erfreut wirkte.
»Ich schlage vor, wir besprechen das am besten in meinem Büro.« sagte dieser dann und ließ Julia und die anderen nicht aus den Augen. »Schließlich handelt es sich hierbei um eine Familienangelegenheit.«
Julia zog verächtlich eine Augenbraue noch oben. »Wirklich?« fragte sie dann ungehalten. »Sie wollen uns jetzt ernsthaft damit kommen?«
Dr. Kallert warf ihr einen kaum zu deutenden Blick zu, dann drehte er sich in Hannahs Richtung. »Wenn Sie mir bitte folgen würden?« Die Aufforderung galt eindeutig nur ihr. Diese nickte. Mit einem letzten Blick zu ihren Freundinnen folgte sie dem Mann, der das Schicksal ihres Bruders in seinen Händen hielt. Okay, das klang jetzt vielleicht etwas dramatisch, aber im Augenblick kam ihr das eben so vor.
»Wir warten hier.« rief Julia ihr noch zu, nicht ohne dem Arzt nochmals einen vernichtenden Blick zu zuwerfen. »Idiot.«
»Aber ein verdammt heißer.«
»Wie bitte?«
Coco ließ sich wieder auf den harten Metallstuhl nieder. »Ich sage ja nur die Wahrheit.«
»Also bitte.« Julia verschränkte die Arme vor der Brust. »Das einzige was an dem heiß sein mag, ist der Stock den er im Arsch hat.«
»Solange er ein guter Arzt ist und er Max gesund macht, sollte euch das doch schnurzpiepegal sein.« Tanja lehnte an der Wand und starrte Julia und Coco an. »Das ist schließlich das einzige was jetzt zählt.«
»Du hast recht.« antwortete Julia. »Hier geht es einzig und allein um Max.«
»Setzen Sie sich.« Die Worte hallten durch das kleine Büro, das lediglich aus einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einem winzigen Wandschrank bestand. Das einzige was die kahle weiße Wand überdeckte, war ein, aus verschiedenen ineinander gemischten Farben bestehendes Bild.
Der Schreibtisch war bis auf eine einzige Akte sorgfältig aufgeräumt. Drei einzelne Kugelschreiber steckten in einer kleinen kegelartigen Form, daneben ein Lineal und ein Bleistift, dessen Mine perfekt gespitzt war.
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