Er gehört zu den wenigen Experten, die von sich sagen können, dass sie die verschiedenen Teilhabesysteme für behinderte Menschen mit besonderen Erschwernissen in ganz Europa kennen.
In den Medien Österreichs wird Franz Wolfmayr ebenso hohe Anerkennung gezollt wie bei den europäischen Leistungsanbietern für behinderte Menschen.
»Eine Vielzahl an Berufen seien Kennzeichen für das Wirken von Wolfmayr: Für einen Beruf, den Sonderschullehrer, hat er den offiziellen Abschluss. Für die anderen Berufe machte er die Meisterprüfung im praktischen Leben – als Professor, Politiker, Gärtner und Gartenarchitekt, Pfarrer und Hirte war er Steiermark weit, österreichweit und auf europäischer Ebene tätig« (Kuckenberger 2015).
Als langjähriger Präsident des Europäischen Dachverbandes der Dienstleistungsanbieter für Menschen mit Beeinträchtigungen (EASPD) hat Franz Wolfmayr erfolgreich Alternativen zu den traditionellen »Werkstätten«-Systemen mitentwickelt.
Alle Autoren unseres Buches sind sich einig: Die Werkstätten für behinderte Menschen, wie sie seit 2001 im deutschen Recht genannt werden, sind eine großartige Erfolgsgeschichte – zu ihrer Zeit gewesen. Denn sie haben in den 1980er und 1990er Jahren dazu beigetragen, einen bis dahin weitgehend »unsichtbaren« Bevölkerungsteil sichtbar zu machen. Sie haben nicht zuletzt durch die rechtlich verankerten »Werkstatt«-Räte mitgeholfen, dass sich gerade bei Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit und Selbständigkeit entwickeln konnten. Doch »Werkstätten« dieser Art hat der Gesetzgeber als Absonderungseinrichtungen konzipiert. Daran und an der mangelnden Reformbereitschaft hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. »Werkstätten« waren und sind fester Bestandteil eines komplexen gesellschaftlichen Systems, das als Sonderwelt existiert und dem Theresia Degener (Jg. 1961) vier wesentliche bundesdeutsche Entwicklungsetappen zuordnet (dies. 2015, 55 ff.):
• 1945–1970: behinderte Menschen sind der »unsichtbare« Teil der Bevölkerung;
• 1970–1980: behinderte sind erst Objekte, dann Subjekte des Rehabilitationssystems;
• 1980–2000: behinderte Menschen werden zu Menschenrechtsobjekten;
• seit 2001: behinderte Menschen werden zu Menschenrechtssubjekten.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) hält das »Werkstätten«-System für menschenrechtlich bedenklich. Es ist nach wie vor patriarchalisch strukturiert, von der »Obrigkeit« finanziert und inklusionspolitisch disqualifiziert. Die in ihm Beschäftigten sind im »Werkstatt«-Leben immer noch Objekte der sog. Leistungserbringer, eine Art Geldboten und weiterhin keine Menschenrechtssubjekte. Das hauptsächlich macht die »Werkstätten«-Szene anachronistisch. Ihr heutiger »Werkstätten«-Typus ist historisch überholt.
Winsen a. d. Aller/Münster/Spelle, den 16. April 2021
Heinrich Greving
Bernhard Sackarendt
Ulrich Scheibner
Abb. 3: Anachronismus: »Es ziemt dem Untertanen nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen.« Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688).
1siehe Dieter Rucht, promovierter Honorarprofessor für Soziologie, Freie Universität Berlin, Kurz-URL (22.01.20): https://t1p.de/9e57
1 Freiheit, die ich meine …
André Thiel
Ja, ich weiß: Der Text meiner Überschrift ist nicht von mir. Er stammt aus dem politischen Gedicht von Max von Schenkendorf (1783–1817). Das und mehr darüber findet man bei Wikipedia. Ab und zu wird das Freiheitslied noch heute gesungen. Beide sagen mir etwas, das Gedicht und der Dichter. Damals ging es um die Befreiung von der Fremdherrschaft. Schenkendorf war ein sehr politischer Mensch und hat sich für seine Ideen starkgemacht. Das haben wir gemeinsam. Das macht ihn mir sympathisch. Er hatte sich in einer Freimaurerloge organisiert. Ich war Mitglied einer Partei, die sich Inklusionspartei nennt.
Schenkendorf konnte nach einem Duell seine rechte Hand nicht mehr bewegen. Dadurch war er ziemlich beeinträchtigt. Auch das bringt ihn mir nahe. Ihm hätte man nach heutigen Maßstäben vielleicht einen Grad der Behinderung von 50 zuerteilt. In meinem Ausweis steht ein Grad von 70. Mir fehlt keine Hand. Dafür habe ich mit beiden Händen so meine Schwierigkeiten. Wenn ich ihre Bewegungen koordinieren will und muss, ist das sehr anstrengend. Der Grund ist meine Beeinträchtigung. Sie heißt Athetose und fordert mich täglich zum Duell zwischen meinem Willen und meinen Bewegungen.
Der »Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen« schreibt über die Athetose: »Medizinischer Fachbegriff für eine Bewegungsstörung mit unwillkürlich ausfahrenden Bewegungen. Die Bewegungsausführung erscheint nicht fließend, sondern überschießend.« Die meisten Menschen mit Athetose haben noch weitere Auffälligkeiten und Beschwerden, z. B. spastische Lähmungen, epileptische Anfälle, Seh-, Hör- und Sprechstörungen. Vieles davon beeinträchtigt mich auch. Das macht mein gesamtes Leben beschwerlich. Außerdem weiß ich, dass die Athetose zu einer Rückentwicklung meiner körperlichen Kräfte führen kann. Auch meine mentale und psychische Kondition kann betroffen werden. Vor dieser Entwicklung fürchte ich mich. Und vor Depressionen.
Doch im Vergleich mit Schenkendorf gibt es noch einen ganz großen Unterschied zwischen ihm und mir: Obwohl er beeinträchtigt war, wurde er nicht behindert. Für seine soziale Karriere brauchte er keine Barrieren zu überwinden. Sein beruflicher Werdegang war kein Hürdenlauf. Dennoch war sein Freiheitsdrang nicht erfolgreich. Die deutsche Geschichte verlief anders. Auch mein Freiheitsdrang ist noch nicht erfolgreich. Denn trotz meiner schulischen Entwicklung und zahlreicher Fort- und Weiterbildungszertifikate wurde ich an eine Werkstatt für behinderte Menschen gebunden. Wie die Geschichte für mich weitergeht, kann ich nicht wissen. Mit Galgenhumor sage ich mir: Schenkendorf ist nur 34 Jahre alt geworden. Ich aber gehe stramm auf die Vierzig zu.
Abb. 4: Maximilian von Schenkendorf, Stahlstich ca. 1818
Diesen Text habe ich selbst erarbeitet und formuliert. Dabei habe ich mich von Vorbildern anregen lassen. Bei den Gesetzen wurde ich von Fachleuten beraten. Und die Quellen wurden mir herausgesucht und zusammengestellt. Selbst schreiben konnte ich vom Manuskript allerdings nur die Gliederung, die Stichworte dazu und meine Kommentare zu den Entwürfen. Denn ein Manuskript hat sehr viel Text. So viel kann ich auf der PC-Tastatur nicht selber tippen. Da spielen meine Hände und deren Abstimmung nicht mit. Doch den Umgang mit einer Tastatur habe ich gelernt und beherrsche ihn auch. Denn nach dem Abschluss meiner Mittleren Reife habe ich die Berufsschule mit dem Notendurchschnitt 2,7 abgeschlossen. Die IHK-Prüfung im Ausbildungsberuf »Bürokraft« habe ich dann mit 2,8 bestanden. Danach begann meine lange Odyssee: die Suche nach einer richtigen Arbeitsstelle. Wie bei den Irrfahrten des Odysseus war das ein jahrelanger Umweg. Er führte durch ein Berufsbildungswerk, ein Berufsförderungswerk, ein Praktikum bei einem Kurierdienst und ein Praktikum zur »betriebsnahen Qualifizierung für Behinderte«. Das war bei einem Verein mit dem hoffnungsvollen Namen »Lebenstraum«. Mein Lebenstraum war allerdings ein
Abb. 5: Körperliche Beeinträchtigung durch Athetose
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