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Für Sara, Martin und Tim
In seinen Liedern bringt Matthias Gehler auf sehr persönliche Weise zum Ausdruck, was viele Menschen zu DDR-Zeiten bewegte, ohne es offen anzusprechen. Die Texte und Erläuterungen bieten dazu eine kleine Zeitreise in den ostdeutschen Alltag bis zum Tag der Maueröffnung. Wer fragt, wie es in der DDR war, findet in diesem Buch poetische Antworten zu den hässlichen Seiten des SED-Systems wie auch zu den unverfänglichen Augenblicken unseres Lebens damals.
Matthias Gehler und mich verbindet eine kurze, aber intensive Zeit der Zusammenarbeit im Jahr der Deutschen Einheit. Matthias Gehler war Regierungssprecher der ersten demokratisch gewählten und zugleich letzten Regierung der DDR von Ministerpräsident Lothar de Maizière. Ich war seine Stellvertreterin.
Eine nach westlichen Maßstäben funktionierende Pressestelle haben wir nicht vorgefunden, als es losging. Wir haben viel improvisiert und noch mehr gearbeitet. Die Zeit von der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 bis zum 3. Oktober 1990, der Wiedervereinigung Deutschlands, waren sechs herausfordernde Monate.
Mittlerweile ist dieses halbe Jahr ein Stück Zeitgeschichte. 2015 feiern wir den 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Es ist gut, dass wir dazu auf Lieder und Gedichte wie die hier abgedruckten zurückgreifen können.
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, September 2014
Willi Wild und ich sind auf dem Rückweg von Hamburg nach Erfurt. Die Stimmung ist gut an diesem 06. September 2013. Schließlich gehörten wir gestern Abend zu den Nominierten für den Deutschen Radiopreis. In der Kategorie „Beste Aktion“ sind wir unter die letzten drei gekommen. Das beflügelt. Beseelt davon, über die Bildschirme Deutschlands geflimmert zu sein, tauschen wir begeistert unsere Eindrücke aus. Den roten Teppich hatten wir medienwirksam gleich mehrfach betreten. Nach der After-Show-Party sind wir in einer Luxuslimousine ins Raddison Blu chauffiert worden.
Nun sitzen wir in unserem Dienstwagen und hängen der Welt der Stars und Sternchen nach. Unser Gespräch wird philosophisch. Scherzend zitiere ich: „Mein Publikum klatschte und lachte, die einen laut und die anderen sachte.“ Willi darauf: „Ach ja, du warst ja auch Liedermacher.“ Und weil das alles so nicht mehr in mein Leben passt, entgegne ich etwas barsch und endgültig: „Diese Zeiten sind vorbei.“
Mein Beifahrer lässt nicht locker: „Wann bist du eigentlich das letzte Mal vor größerem Publikum aufgetreten?“ Im Auto gibt es kein Entrinnen. „Ich glaube, es war bei der Eröffnung des Schleswig-Holstein Musik Festivals im Juni 1990.“
Justus Frantz hatte mich gebeten, einige Lieder zu singen. Der Einladung des Festival-Intendanten war allerlei Bonner Politprominenz gefolgt und hatte sich auf Schloss Wotersen versammelt. Auch Politiker wurden ins Programm integriert. Arbeitsminister Norbert Blüm las beim „Karneval der Tiere“ von ihm satirisch gestaltete Zwischentexte. Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg bekam einen Taktstock in die Hand gedrückt und wurde vor das Stabsmusikkorps der Nationalen Volksarmee aus Rostock gestellt. Es spielte zusammen mit dem Musikkorps der Bundeswehr aus Bonn den Präsentiermarsch „Großer Kurfürst“. In der „Welt am Sonntag“ war anschließend zu lesen: „Lothar de Maizière schickte … seinen Regierungssprecher Matthias Gehler. Gehler sang mit sanfter Stimme zur Gitarre.“ Dieser Kommentar traf zumindest die prickelnde Stimmung. Nach dem Konzert hatten viele aus dem Westen Tränen in den Augen. Sie konnten vielleicht nicht immer die Anspielungen auf die ostdeutsche Realität in den Liedern verstehen, aber den Sinn hatten sie begriffen. Ich sehe die Gesichter und Mienen heute noch lebendig vor mir – eine emotionale Antwort in gesamtdeutscher Dimension.
Nach der Geschichte vom Schleswig-Holstein Musik Festival bedrängt mich mein Beifahrer weiter: „Und dann hast du deine Gitarre an den Nagel gehängt?“
Ich überlege: „Stimmt nicht ganz. Es gab noch ein Konzert im Ost-Berliner Pressezentrum in der Mohrenstraße. Es fand in jenem Saal statt, in dem Günter Schabowski seinen Zettel vorgelesen hatte, der zur Öffnung der Mauer führte und in dem wir als erste frei gewählte DDR Regierung ebenfalls unsere Pressekonferenzen abhielten. Der Saal existiert nicht mehr. Das Pressepult steht im Museum. Moderiert wurde das Konzert damals von der Stellvertretenden Regierungssprecherin Angela Merkel. Wir beide wollten eine Ära abschließen, die als Wende oder friedliche Revolution 1990 noch nachwirkte, und ich wollte mich am Ende meiner Regierungssprecherzeit mit diesem Abend von den Kolleginnen und Kollegen der Presse aus Deutschland und der ganzen Welt verabschieden. Nach dem 03. Oktober sollte der Blick vor allem nach vorn gerichtet sein. Ab diesem Zeitpunkt stellte ich meine Gitarre ins Abseits.“
Willi Wild: „Wie bist du denn überhaupt zur Musik gekommen?“
„Ich habe Gitarre spielen gelernt und das dann später in der Zeit des Studiums kultiviert.“
„Du hast Theologie, Kommunikationswissenschaften und Psychologie studiert?“
„Zunächst fünf Jahre Theologie und Musik mit Formenlehre, Chorleitung, Gesang und Klavierunterricht. Letzterer war eine Plage. Obwohl ich Klaviermusik mag, habe ich mich mit den schwarzen und weißen Tasten herumgequält und kaum Fortschritte erzielt. Während andere an die Orgel wechselten, blieb ich in „Peters Schaukel“ hängen. Mein Instrument ist die Gitarre.“
„Und was ist davon nach 25 Jahren übrig geblieben?“
„Unsicherheit.“
„Warum denn das?“
„Die Zeit des Gauklers ist vorbei.“
„Hast du nicht trotzdem Lust, wieder einmal zu spielen?“
Ich wehre ab, denke aber an Franka Günther, die Organisatorin des „Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte“. Sie hatte mich erst vor kurzem nach einer Veranstaltung in Jena angesprochen. Dort war mir der Satz rausgerutscht, dass hier ein Konzert von mir zu DDR-Zeiten verboten worden war. Nun meinte sie, ich solle unbedingt nach 25 Jahren wieder vor Publikum auftreten – die Zeit sei reif.
Weil ich Willi Wild im Auto nicht ausweichen kann, starre ich auf die Fahrbahn und beantworte geduldig seine Fragen. Ich zitiere Liedstrophen, Gedichte und Textfragmente und erzähle so viele Geschichten, wie zwischen Hamburg und Erfurt passen. So berichte ich vom Berliner Vorausscheid für das Chanson-Festival in Frankfurt/Oder, von Marcus, den die Polizei auf dem Alexanderplatz in die Mangel genommen hat, vom Maler Fink auf Hiddensee, von der Warnung vor dem Lied „Grau“, von der Messe der Meister von Morgen, dem Spatz als Symbolfigur und von dem Drucker, der mutig nicht genehmigte Plakate durch die Maschine laufen ließ.
Mir wird klar, dass das Tingeln durch Theater, Kirchen und Klubs mit etwa fünfzig Konzerten im Jahr bleibende Spuren hinterlassen hat und hinter fast jedem Lied eine Geschichte steckt. So ergibt sich im Nachhinein eine persönliche Sicht auf ein ganz spezielles Leben in der Subkultur der DDR. Mein Beifahrer ist nicht im Osten groß geworden. Er findet, dass viele der Lieder und Verse aktueller denn je sind. Schließlich sagt Willi: „Du schreibst das auf. Ich kümmere mich um das Organisatorische. Ich verlege das Buch. Außerdem wäre es gut, wir hätten noch Musik dazu.“
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