Das Opfer, von dem die Rede ist, war eine Frau von 86 Jahren. Sie hatte nichts als ein gutes Herz und ein einsames Heim – und ein paar Euro zu viel im Sparstrumpf. »Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Raubmord handelt. Motiv: Habgier«, erläuterte der pfiffige Kommissar aus der Voralpenmetropole die Lage. Der Täter weigert sich bisher zu gestehen. Dabei ist die Beweislage übermächtig. »Wir haben Fingerabdrücke an der Tatwaffe, in der Wohnung, am Opfer, überall.« Der mittlerweile verhaftete und ungeständige Mann ist 42 Jahre alt, Türke und betreibt mit seiner Gemahlin einen türkischen Imbiss an einer Kemptener Ausfallstraße, an der wenige Hungrige vorbeikommen, geschweige denn halten. »Die waren finanziell gehörig am Rudern«, sagte ein Ortsansässiger aus. Und weil der Mann die Miete nicht bezahlen konnte und seine beiden Kinder nach immer mehr Markenklamotten brüllten, griff er wohl zur Waffe und vollbrachte das Unfassbare: Er drang bei der Nachbarin ein und tötete sie mit 17 Stichen in die Brust. »Dann wurde ihm wohl klar, was er da eben Entsetzliches getan hatte, und er floh, ohne etwas zu entwenden, vom Tatort«, beschreibt Kommissar Bruno Abraham den mutmaßlichen Tathergang. Die Verwandten der armen Frau hätten jedenfalls nicht feststellen können, dass etwas Wesentliches aus der Wohnung gestohlen worden war.
»Wir hatten natürlich Glück, dass wir die Spur aufgenommen haben, als sie noch ganz frisch war«, so Abraham und wirkt nun doch etwas stolz auf seine Arbeit. Der Imbissbudenbetreiber bleibt bis auf Weiteres in Haft. »Sobald die Formalitäten, die unser Recht nun einmal verlangt, erledigt sind, wird der Prozess eröffnet. Das könnte sich je nach der Menge der Komplikationen einen Monat bis eineinhalb Jahre hinziehen«, meint der Polizeibeamte, der gerade einen so großen Triumph gefeiert hat, und wendet sich wieder seiner normalen Arbeit zu – es geht um die Verfolgung von Müllsündern. Irgendwie ist die Welt hier im Allgäu doch noch ein bisschen sauberer als anderswo.
Birne musste grinsen. Er hatte dazu wenig beigetragen, war aber trotzdem irgendwie stolz auf Bruno, dass er den Fall so professionell gelöst hatte und dass er zu seinen ersten Freunden hier zählte. Wenn der das las, war er bestimmt in Hochstimmung und gab ein paar Tropfen im Korbinian aus. Birne beschloss, heute einfach mal auf gut Glück vorbeizugehen. Später, am Abend. Vorher nicht ins Fitnessstudio, das musste er sich noch überlegen, ob das schlau war, dieses Hobby fortzusetzen. Gern hätte er Simone wieder getroffen, wenn dieser blöde Zwischenfall gestern nicht geschehen wäre. So war es ihm nur peinlich. Er hoffte, dass irgendwann einmal ein Zeitpunkt kommen würde, an dem er ihr das alles würde auseinandersetzen können.
Dann blätterte er durch die Zulauf-Blätter, wunderte sich, wie langweilig der Regionalteil war, wie wenig ihn das betraf. Auch da war die Rede vom Fall, weniger aufgeblasen, dafür mehr Bilder, einmal war sogar Bruno drin. Im Interview. Da wurde gefragt, wie es denn aussehe mit der Sicherheit in der Stadt, ob jetzt jeder damit rechnen könne oder besser solle, ein Messer reingerammt zu bekommen oder einen lieben Angehörigen demnächst in seiner Wohnung und Blutlache zu finden. Bruno antwortete: »Die Polizei, meine Kollegen und ich, leisten hervorragende Arbeit. Die Sicherheit der Bürger ist uns nicht nur Beruf, sondern auch Berufung. Aber 100 Prozent können wir allein von der Polizei nicht garantieren, da werden wir zu sehr von anderen Aufgaben eingenommen. Der Gesetzgeber wäre gefragt.« »Was wünschen Sie sich?« »Wir bräuchten mehr – mehr Leute, mehr Geld, mehr Befugnisse. Wir sind nur Menschen hier. Unsere Leistungsfähigkeit ist beschränkt, auch wir sind mal krank oder haben privat Probleme und dennoch wird eigentlich von uns erwartet, dass wir 24 Stunden am Tag die Augen offen haben. Ich bin stolz, in einem freien Land zu wohnen. Die Freiheit ist für uns selbstverständlich, wir sind mit ihr geboren und deshalb vergessen manche – es sind nur ein paar, aber die genügen – dass Freiheit auch Grenzen braucht, Grenzen, die man dringend verstärkt in den Schulen vermitteln sollte. Das halte ich für wichtiger als Griechisch und Latein. Damit will ich nichts gegen unsere Schulen sagen. Die sind nicht schlecht. Wenn jemand nicht das Glück hatte, unsere Erziehung zu genießen, dann fehlen dem oft völlig die Schranken und das kann fatal werden.« »Sprechen Sie von den Menschen, die erst in unser Land gezogen sind als Erwachsene?« »Ich will nicht pauschalisieren, sonst hat man gleich wieder seinen Ruf weg. Aber ein bisschen was ist schon dran. Seien wir ehrlich, die bringen ein ganz anderes Wertesystem mit, das sich auf unseren Straßen nicht umsetzen lässt. Da kommt es zu Kollisionen, unvermeidlich. Daheim sollen sie das ruhig ausleben. Aber hier regieren unsere Gesetze und die vertrete ich, dafür bekomme ich mein Geld und wer da was dagegen hat, der spürt meinen Knüppel. Mehr sage ich nicht.«
Birne schaute sich das Kino-Programm an. Das wär mal wieder was. Kino. Große Filme. Dann die anderen Anzeigen, dann die Todesanzeigen, ihre Anzeige. Da las er, was er jetzt unmöglich überlesen konnte: die Beerdigung. Sie hatten die alte Frau schon freigegeben. Sie mussten nicht mehr an ihr rumschneiden, die fleißigen Pathologen. Heute, 10 Uhr.
Birne wollte da hin. Birne gehörte da hin. Sollten sie ihn sehen. Drauf geschissen. Er würde sich auch im Hintergrund halten. Kaum schnaufen. Nur beobachten.
Er hatte schwarze Klamotten im Kleiderschrank, nicht zu nobel, aber dafür langte es. Er ging zu Fuß, musste dazu am Forum, einer Mall, die das Zentrum als Zentrum bedrängte, vorbei, dann durch die Fußgängerzone abwärts, am Karstadt und der Residenz entlang, alles im hässlichsten Wetter und inmitten von Volk, das seinen Konsumbummel am Vormittag begann.
Wenig los in der Kirche. Sie mussten ihn sehen. Birne drückte sich in die letzte Reihe, was auffällig war, weil die Reihen zwischen ihm und den paar da vorne leer waren. Der Gottesdienst lief schon. Birne kam zur Lesung, danach das Evangelium. Ein ziemlich grauer Pfarrer mit Halbglatze und gutem Bauch, der von Bierdurst zeugte. Er las von der Aufweckung des Lazarus. Der war vier Tage tot und dann kam Jesus und holte ihn wieder hoch. Damals war es heiß, dann wurde der Lazarus wieder lebendig, wahrscheinlich hatte er damals schon nach Verwesung gestunken, denn der Heiland war nicht gleich zur Stelle gewesen, weil er noch vier Tage gebraucht hatte zu Fuß zum Lazarus. Vier Tage verfaulen in der Hitze, dann kommt der Jesus und übergibt der Familie einen Zombie. Zuerst war da sicher ein großes Hallo, weil die Nachbarn den Lazarus ja tot gesehen haben und plötzlich spaziert er wieder aus seinem Grab raus, dann muss es ihnen aber doch unheimlich geworden sein. Ist das Verfaulte wieder zusammengeheilt? Geht so was?, dachte Birne. Ging so was, weil Jesus seine Finger dran gehabt hatte? Wie wär das, wenn die Zulauf wiederkäme plötzlich? Zumindest eigenartig. Mit der wollte man nicht mehr schnapseln und erst recht nicht mehr Brotzeit essen. Jetzt, nachdem sie tot war, war sie wohl tot. Bruno war nicht da. Der Enkel war da und seine Freundin Simone, ein älterer Herr mit einer Frau, ebenfalls in Schwarz, könnte der Sohn sein, der Vater vom Enkel. Der Rest der Gemeinde war auch schon alt, am Rand des Grabs, die wollten noch was fürs Seelenheil tun. Das Evangelium erzählte eine Zombie-Geschichte, damit den Zuhörern klar wurde, dass die Toten bleiben sollten, wo sie waren, weil Zombies stinken und blöd sind in der Birne. Lazarus hatte eine Schwester, die Martha, die heulte am Anfang am lautesten, auf die hörte Jesus. Und die Martha, die hatte was übrig für diesen Jesus, der ihr den Bruder wieder lebendig machte. Vielleicht brauchte sie ihren Bruder fürs Geschäft. Niemand verliert gern den Bruder, der Bruder war weg und auf einmal wieder da, gerade als man sich damit abgefunden hatte, dass er weg war. Damit mussten die zurechtkommen damals, war nicht einfach, war komisch sicher. Und anstrengend, ein Leben zu führen mit einer komischen Beziehung, das wusste Birne. Die Martha hatte sich einen Stress ins Haus geheult, die war froh, wie er dann endgültig weg war. Kann sein, dass der Jesus sich gewundert hat, dass sie beim zweiten Mal nicht wieder so traurig gewesen war. Er hätte den Lazarus womöglich noch mal geholt, diesmal endgültig, und man könnte ihn womöglich heute noch bestaunen, den Lazarus, der nicht mehr starb, nachdem Jesus ihn zwei Mal geholt hatte. Man könnte ihn fragen, wie Jesus war als Mensch und nach seinem größten Wunsch könnte man ihn fragen und dann würde er sagen, dass er gern den Sisyphos kennenlernen würde, wenn es ihn gäbe. Lazarus fault bis auf den heutigen Tag, aber er wird nie ganz verfaulen, er wird nur immer mehr stinken und in ein Haus lässt ihn schon 1000 Jahre keiner mehr rein. Er vergisst auch alles, weil sein Hirn wegfault und der normale Alzheimer noch dazukommt. Er hat keine Ahnung, wer dieser Jesus ist, nach dem sie ihn dauernd fragen.
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